74. BerlinaleEin Festival zwischen hausgemachten und weltpolitischen Problemen

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Irène Jacob schreit mit weit aufgerissenem Mund.

Irène Jacob in Amos Gitais „Shikun“, einem Berlinale-Beitrag aus Israel

Über die Berlinale wird gerade viel geredet, aber vor allem wegen Boykottaufrufen und AfD-Politikern auf der Gästeliste. Wie steht es um das wichtigste deutsche Filmfestival? 

An der Berlinale fanden stets viele Menschen vieles auszusetzen. Das wichtigste deutsche Filmfestival war ihnen zu politisch und zu wenig künstlerisch (unter dem Festivalleiter Moritz de Hadeln), zu kommerziell und kulinarisch (unter dessen Nachfolger Dieter Kosslick) oder zu wenig glamourös (unter dem scheidenden Carlo Chatrian). Die einen beklagten fehlende Hollywood-Stars, die anderen den Bedeutungsverlust der filmhistorischen Retrospektive, und alle schimpften über das Wetter und dass Berlin weder Cannes noch Venedig ist.

Wenn nächste Woche die 74. Berlinale beginnt, ist also vieles so wie immer. Die Kritiker haben sich über die Wettbewerbsauswahl gebeugt und ihre jeweiligen Vorteile bestätigt gefunden. Und auch die diplomatischen Protestnoten des Festivals bescheren einem ein Gefühl des Déjà-vu: Alle Jahre wieder erinnert die Berlinale an die restriktive Film- und Ausreisepolitik des iranischen Mullah-Regimes.

Die politische Weltlage zeigt sich auch auf der Berlinale

Aber dieses Jahr ist auch vieles anders in Berlin. Teils ergibt sich das aus der politischen Weltlage und deren innerdeutschen Weiterungen, teils sind sie hausgemacht. Carlo Chatrian wurde letztes Jahr auf eine derart unfeine Weise zur Tür seines Festivals hinauskomplimentiert, dass dies sogar in Hollywood für Aufsehen sorgte; für seine Nachfolgerin, die US-Amerikanerin Tricia Tuttle, spricht vor allem, dass man ihr (noch) nichts vorwerfen kann. Außerdem gehen dem Berliner Publikumsfestival, das einen großen Teil seines Etats aus Eintrittskarten erlöst, am verödenden Potsdamer Platz allmählich die Kinos aus. Sollte die Berlinale den 2025 auslaufenden Mietvertrag für ihren ungeliebten, aber praktischen „Palast“ nicht verlängern, stünde ein großer Umzug an.

Bei solchen häuslichen Schwierigkeiten hat die Berlinale die Lösung immerhin selbst in der Hand. Anders ist dies etwa bei der Einladung von Kulturpolitikern. Deren parteiübergreifende Anwesenheit ist bei der Berlinale-Eröffnungsfeier protokollarisch erwünscht und wird durch die Bundesregierung vorgegeben. In diesem Jahr war dies der öffentlichen Rede wert, weil auch zwei AfD-Politiker qua Sitz im Kulturausschuss des Bundestages in den Genuss von Freikarten gekommen sind. In einem von rund 200 Filmemachern unterzeichneten offenen Brief, deren Verfasser offenbar zur Übertreibung neigen, werden die Einladungen als Versuch angeprangert, die AfD zu „normalisieren“ – was die grüne Kulturstaatssekretärin Claudia Roth umgehend und angesichts ihrer politischen Vergangenheit vor allem glaubhaft dementierte. 

Die Debatte stellt die Berlinale gleichwohl vor ein Dilemma, das Claudia Roth in ergreifender Schlichtheit ansprach. Sie fände es besser, sagte sie sinngemäß, die AfD säße nicht im Parlament, denn dann hätten sich auch die Berlinale-Einladungen an ihre Abgeordneten erledigt. So gesehen wurden die AfD-Politiker rechtmäßig in den Berlinale-Palast gewählt und lassen sich von der Berlinale ebenso wenig ausladen wie aus dem Bundestag oder dem Berliner Abgeordnetenhaus.

Das Leitungs-Duo der Berlinale, Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin, und Carlo Chatrian, künstlerischer Direktor, stehen vor Beginn der Pressekonferenz zur Vorstellung Bekanntgabe des Berlinale-Programms 2024 mit Merchandiseartikeln der Berlinale auf der Bühne.

Mariette Rissenbeek, Geschäftsführerin, und Carlo Chatrian, künstlerischer Direktor der Berlinale

Rechte Umtriebe wurden der Berlinale bislang selten nachgesagt. Selbst die Amtszeit ihres Gründungsdirektors Alfred Bauer, eines NS-Funktionärs, der bis 1945 in der Reichsfilmkammer wirkte, gilt in dieser Hinsicht als unverdächtig. In der einstigen Frontstadt Berlin zelebrierte Bauer mit geladenen Hollywood-Stars die deutsche „Westbindung“, als dies ein anderes Wort für Weltoffenheit war. Heute scheint Berlin wieder Frontstadt zu sein, allerdings nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Westen und globalem Süden. Und Weltoffenheit zeigt sich für nicht wenige an der Haltung zum Nahostkonflikt.

Im Januar kam die Debatte um die deutsche Haltung zum israelischen Krieg in Gaza auch auf der Berlinale an. Der ghanaische Regisseur Ayo Tsalithaba zog seinen Film aus dem Forum Expanded, einer der Videokunst gewidmeten Nebensektion, zurück, und begründete dies mit „rassistischen und faschistischen Zensurmaßnahmen der deutschen Regierung“, die nicht nur einen „Genozid“ in Gaza unterstütze, sondern auch jegliche Kritik daran zu unterbinden versuche. Wie der „Strike Germany“-Aufruf zum Boykott deutscher Kulturveranstaltungen belegt, ist diese Haltung (und die Ausblendung des Terroranschlags der Hamas vom 7. Oktober) unter linken, neulinken und postkolonialen Künstlern weit verbreitet. In der kommerziellen Filmwelt scheint dies hingegen eine Minderheitenmeinung zu sein. Tsalithabas Beispiel folgten bislang zwei weitere Teilnehmer des Forum Expanded. Sonst jedoch niemand.

Die schmerzliche Lücke zu Cannes und Venedig konnte Carlo Chatrian nicht verkleinern

Die Berlinale-Leitung reagierte auf die aktuellen Kriegs- und Antisemitismus-Debatten, indem sie eine Gesprächsrunde über das Filmemachen in Kriegszeiten ankündigte. Außerdem soll es einen öffentlichen, von einem israelisch-palästinensischen Team geleiteten Gesprächsraum geben. Im eigentlichen Festivalzentrum, dem Filmprogramm, ist der Konflikt ebenfalls präsent: Amos Gitai zeigt in „Shikun“ (Berlinale Special) am Beispiel der Bewohner eines Wohnkomplexes die Gegensätze der israelischen Gesellschaft und löst diese im absurden Theater eines Eugène Ionesco auf. Im Panorama läuft „No Other Land“, der Dokumentarfilm eines palästinensisch-israelischen Regiekollektivs, über den Widerstand eines palästinensischen Aktivisten gegen illegale Siedlungen im Westjordanland. Man darf gespannt sein, ob diese Filme angesichts der auf Zuspitzung setzenden aktuellen Debattenkultur der Skandalisierung entgehen.

Vielleicht werden ab 15. Februar ja auch Filme die Schlagzeilen bestimmen, die sich nicht auf den Nenner politischer Botschaften (oder Feindschaften) bringen lassen. Dann ließe sich auch die fünfjährige Amtszeit Carlo Chatrians in Ruhe resümieren. Offenbar wurde sein Vertrag auch wegen der fehlenden US-Präsenz auf der Berlinale nicht verlängert – zum in Ehren ergrauten neuen Hollywood scheint Chatrian hingegen einen guten Draht zu haben. Nachdem Steven Spielberg letztes Jahr einen goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk erhalten hatte, wird diese Ehre nun Martin Scorsese zuteil. Im Gegensatz zu Spielberg kommt Scorsese allerdings mit leeren Händen; sein aktueller Film „Killers of the Flower Moon“ hatte seine Weltpremiere letztes Jahr in Cannes.

Die schmerzliche Lücke zu Cannes und Venedig konnte Chatrian nach allgemeiner Meinung nicht verkleinern. Dafür liefen im Berlinale-Wettbewerb zuletzt erstaunlich viele Filme, die man eigentlich bei der Konkurrenz erwartet hätte. Auch in diesem Jahr scheint Chatrian einige Stars des künstlerischen Films erfolgreich abgeworben zu haben: Bruno Dumont ist mit „L‘Empire“, einer Science-Fiction-Fantasie, zu Gast, Olivier Assayas präsentiert mit „Hors du temps“ ein Corona-Kammerspiel und die Cannes-Gewinnerin Mati Diop zeigt einen Dokumentarfilm über die Rückgabe geraubter Kunstwerke aus dem ehemaligen Königreich Benin. Vielleicht wird sich Tricia Tuttle demnächst fragen lassen müssen, ob sie eigentlich gut genug Französisch spricht.

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