Interview vor der lit.CologneGregor Gysi: „So kann ich Die Linke nicht untergehen lassen“

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Gregor Gysi auf der Bühne der Stadthalle Mülheim, beim „Kanzlerduell der Herzen“ im Mai 2023 mit Martin Sonneborn.

Gregor Gysi wird auf der lit.Cologne sein im Oktober erschienenes Buch vorstellen. Dabei wird es natürlich auch um seine Partei Die Linke gehen.

Der Veteran der Linkspartei kommt zur lit.Cologne, um sein Buch „Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi“ vorzustellen. Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ spricht er vorab über seinen Spaß an Kölner Brauhäusern und den Zustand der Linkspartei.

Kölner Stadt-Anzeiger: Herr Gysi, der Titel Ihres im Oktober 2023 erschienen Buchs „Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi“ suggeriert, dass Sie ein Liebhaber des Imbiss-Klassikers sind. Dabei essen Sie eigentlich nur höchstens zweimal im Jahr Currywurst, bei Spielen des FC Union Berlin.

Gregor Gysi: Da schmeckt sie mir einfach gut, für mich gehört das zum Fußball auch dazu. Ganz selten gehe ich mal zu Konnopke (eine bekannte Imbissbude in Ost-Berlin, Anm. d. Red) eine essen, aber das auch nur so einmal im Jahr. Wir haben das Buch ja auch nur so genannt, weil wir zum Ausdruck bringen wollten, dass es 60 Gespräche sind. Über kleine und wichtige Dinge, über Persönliches und Politisches.

Wann haben Sie denn zuletzt in Köln Currywurst gegessen?

Das ist noch gar nicht so lange her. Ich habe auf einer Veranstaltung vor Unternehmern gesprochen, danach war ich auf einem Gewerkschaftstermin. Also beide Seiten. Ich bin gerne in Köln, schon deshalb, weil meine Tochter dort wohnt.

Ich gehe grundsätzlich gerne in Kölner Brauhäuser. Das macht mir Spaß. Sowohl die Art, wie bedient wird, als auch das Essen. Da lade ich natürlich gerne meine Tochter ein. Diese vornehmen Restaurants in den Hotels, das kenne ich alles auswendig. So ein Brauhaus, das ist eine ganz andere Atmosphäre und das finde ich schön.

Im März werden Sie auf der lit.Cologne gemeinsam mit ihrem langjährigen Begleiter und Co-Autor Hans-Dieter Schütt Ihr Buch vorstellen. Sie werden dann ja vermutlich nicht einfach nur aus Ihren Gesprächsaufzeichnungen vorlesen.

Herr Schütt führt mit mir immer ein Gespräch, dabei geht es um aktuelle Politik, es geht natürlich auch um die Situation der Linken. Es geht um Persönliches – also so weit ich das gestatte, danach zu fragen. Dann fragt er mich auch mal nach meinen Vorfahren, das ist immer so eine Mischung. Die Leute sind hinterher angetan, weil sie sagen, dass es selten ist, dass man so eine Mischung aus politischen Aussagen und Unterhaltung bekommt. Ich finde, wenn Leute auf eine Abendveranstaltung gehen, dass sie auch das Recht auf beides haben.

Gab es in jüngster Zeit Gespräche mit Herrn Schütt, die Sie vielleicht noch gerne in Ihrem Buch untergebracht hätten?

Wir sprechen immer wieder über die unterschiedlichsten Dinge. Mal fragt er mich nach China oder wie das jetzt als fraktionsloser Abgeordneter ist, oder wie ich Weihnachten feiere. Lauter solcher Dinge. Es kommen immer Gespräche zustande. Aber ich habe ihm auch gesagt: „Wir müssen jetzt nichts mehr aufschreiben, jetzt haben wir ein Buch“. Das reicht.

Natürlich geht es in einem Buch von Gregor Gysi auch um Die Linke. In einem Gespräch vom Mai haben Sie sich mit Herrn Schütt über den Zustand Ihrer Partei unterhalten – schon damals sah es nicht gut aus. Besser ist es nicht geworden. Wie schlecht steht es um die Linkspartei? 

Die Linke ist in einer existenziellen Krise. Aber sie darf nicht verschwinden. Es ist ungeheuer wichtig, dass sie 2025 wieder in den Bundestag einzieht. Dafür muss die Partei jetzt Denunziation und Selbstbeschäftigung überwinden und sich wieder auf fünf Kernfragen konzentrieren. Erstens reale Friedenspolitik, zweitens deutlich mehr soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit, drittens ökologische Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung, viertens die Gleichstellung von Frau und Mann, fünftens die Gleichstellung von Ost und West. Das ist es, nichts anderes.

Im Oktober sind zehn Bundestagsabgeordnete, darunter Sahra Wagenknecht, aus der Partei ausgetreten. Anfang Dezember dann die Auflösung der Bundestagsfraktion. Wie will Die Linke es aus dieser existenziellen Krise schaffen?

Wir haben inzwischen einen Antrag auf Gruppenbildung gestellt. Eine Gruppe darf zwar mehr als ein Einzelabgeordneter, hat aber nicht so viele Rechte wie eine Fraktion. Wir können nicht so viele Leute beschäftigen, wie vorher, weil eine Gruppe nur den halben Betrag bekommt. Wir können auch keine namentlichen Abstimmungen beantragen. Aber natürlich können wir wieder bestimmte Fragen stellen und vor allem können wir wieder Anträge in den Bundestag einbringen, was für Einzelabgeordnete sehr begrenzt ist. Außerdem sind wir dann in den Ausschüssen wieder beschließende Mitglieder, und nicht einfach nur wie jetzt beratend. Aber durch die Abspaltung sind wir natürlich abgeschwächt worden.

Was ich den anderen Abgeordneten übel nehme, ist gar nicht die Idee, eine neue Partei zu gründen – das kann ja jede und jeder halten, wie er oder sie will. Aber der letzte Wahlkampf, egal wie gut oder schlecht er war, ist ja von der Partei Die Linke bezahlt worden. Es waren unsere Mitglieder, die den organisiert haben. Da darf man die Mandate nicht einfach mitnehmen für eine ganz andere Partei, die ja nicht gewählt worden ist. Ich finde, sie hätten alle das Mandat niederlegen müssen, dann wären zehn Linke nachgerückt und wir wären weiterhin eine Fraktion. Haben sie aber nicht gemacht.

Sie haben es schon angesprochen: Sahra Wagenknecht und die anderen Abgeordneten wollen im Januar eine neue Partei gründen, das „Bündnis Sahra Wagenknecht“. Eine Konkurrenz für die Linkspartei?

Die Partei sollte uns nicht über die Maße interessieren. Also sie ist nicht unser Gegner, sie ist aber auch nicht unser Freund. Wir dürfen das nicht überbewerten und uns auf keinen Fall auf die Gegnerschaft zu ihr konzentrieren, das wäre falsch.

Sie bietet Sozialpolitik wie die Linke an, Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard und Flüchtlingspolitik wie die AfD. Dadurch sollen sich die Stimmen addieren. Das kann zu Anfang funktionieren. Langfristig aber nicht, weil einige sie aus dem einen Grund, andere aus dem anderen Grund nicht wählen. Das darf man nicht vergessen.

Außerdem powern die Medien sie derzeit hoch, weil sie ja auch dabei ist, die Linke zu zerstören. Es gibt ja durchaus Leute, die die Behandlung nicht schlecht finden. Aber sie vergessen, wie man dann auch wieder runtergeschrieben wird. Die Meinung von Journalistinnen und Journalisten zu der Partei, die Frau Wagenknecht gründet, kann sich auch wieder ändern. Es gibt auch schon erste kritische Kommentare über diese Zusammenwallung der unterschiedlichen politischen Positionen, wo die Autorinnen und Autoren meinen, dass das nicht gut gehen kann.

Wie war Ihr letztes Gespräch mit Sahra Wagenknecht?

Das war kurz bevor die Bekanntgabe des Parteiaustritts anstand. Sie hat mir versucht zu erklären, dass sie das Mandat behalten müsse, weil man anders eine Partei nicht aufbauen und gründen könne. Ich habe ihr gesagt: „Das ist falsch, die AfD war ja auch nicht im Bundestag und ist trotzdem reingekommen.“ Da waren wir uns natürlich nicht einig.

Es gab sogar mal ein gemeinsames Papier von ihr und mir für Frieden, soziale Sicherheit und eine solidarische Gesellschaft. Dann kam ihre Friedenskundgebung, da hat sich der Parteivorstand nicht so besonders glücklich verhalten und da hat sie gesagt „Schluss, mach ich nicht mehr mit“. Seitdem war mir klar, dass sie gehen wird. Aber ich habe weiterhin mit ihr Gespräche geführt. Die Partei durfte nicht diejenige sein, die sie rausdrängt. Und nun ist sie ja auch von selbst gegangen.

Stichwort AfD: Die Partei hat konstant hohe Umfragewerte, während die der Koalition katastrophal sind. Im kommenden Jahr stehen in Ostdeutschland drei Wahlen an, bei denen die AfD gute Ergebnisse erzielen könnte. Wie sehen Sie das?

Wir müssen nicht immer darüber nachdenken, was die AfD so macht, um Stimmen zu bekommen. Sondern darüber, was wir falsch machen, sodass wir Stimmen verlieren. Und da gibt es mehrere Gründe.

Ich habe davor schon ein Buch geschrieben, „Was Politiker nicht sagen“. Dessen Untertitel lautet „Weil es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten geht“. Es werden falsche Beweggründe genannt, es wird eine falsche Sprache geführt. Die Leute fühlen sich gar nicht mehr gemeint von der etablierten Politik. Das alles stärkt die AfD.

In Ihrem Buch nennen Sie ein Rezept, wie man dagegen steuern kann. Die Union müsse konservativer, die SPD wieder linker und die Grünen wieder grün werden. Ihre Partei müsse wieder Zuversicht bieten. Wie kann das gelingen?

Wir müssen zu unseren Ursprüngen zurückkehren. Genauso SPD, die Union, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen und auch Die Linke. Dann ziehen wir genügend Wählerinnen und Wähler an. Wenn die Leute merken, es ist ernst gemeint, wir beschäftigen uns nicht zum Schein damit, sondern wir wollen wirklich ihr Leben positiv verändern.

Es gibt zwei interessante Momente: Eltern können sich heute nicht sagen, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen. Das führt zu Angst. Vor der Globalisierung, aber auch vor Geflüchteten – und das wiederum nutzt nur dem Nationalismus und dem Rechtsextremismus. Der zweite Moment ist die junge Generation, die anders denkt als meine, oder die folgenden Generationen. Wir haben unser Leben immer nach unserer Arbeit ausgerichtet. Das will die Jugend nicht mehr. Sie möchte, dass sich die Arbeit nach ihrem Leben ausrichtet. Ein hochinteressanter Unterschied in der Herangehensweise. Vielleicht haben sie recht und wir alten Knochen müssen lernen, anders zu denken.

Welche Rolle spielt dabei noch Die Linke?

Die Linkspartei ist ja nicht ersetzbar. Stellen Sie sich doch mal ernsthaft vor, es gäbe uns nicht mehr. Dann wäre das Linkeste im Bundestag Olaf Scholz. Ich bitte Sie – das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Dann gäbe es auch für die Gesellschaft keine linken Denkansätze mehr. Die müssen ja noch gar nicht zur Macht kommen, regieren und sich auch nicht durchsetzen. Aber sie müssen mitdiskutiert werden.

Ich war der Erste, der in Bonn (bis 1999 Regierungssitz der Bundesrepublik, Anm. d. Red.) einen flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn vorgeschlagen hat. Alle haben damals Nein gesagt, inzwischen haben wir ihn. Das heißt, es ist durch Die Linke – natürlich nicht allein – gelungen, den Zeitgeist zu verändern, der dann auch wieder wichtig ist für eine Bundesregierung.

Ich habe auch von Anfang an gesagt, dass der Einmarsch der Bundeswehr in Afghanistan falsch ist, weil man mit Krieg weder Religion noch Kultur verändern kann. Jetzt sind wir raus und die Taliban sind mächtiger als zuvor. Aber damals waren alle klüger und haben mir erklärt, was sie alles mit der Bundeswehr verändern werden. Das hat sich aber nicht bewahrheitet.

Es geht gar nicht darum, ob ich recht hatte oder nicht. Durch uns gab es aber Denkansätze, die kein anderer vertreten hat. Das ist doch wichtig für die Bevölkerung, dass es eine Fraktion gibt, die dagegen argumentiert, auch wenn die Mehrheit das nicht teilt. Aber durch die man sieht, dass man die Welt auch anders betrachten kann. Ich finde diese Ansätze auch in sozialen Fragen, Steuerthemen und der Arbeit einfach wichtig. Mir geht es gar nicht vordergründig um die Partei, sondern um unsere Gesellschaft. Und den Bundestag. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass die Linke da drinbleibt.

Nun darf man aber auch nicht außer Acht lassen, dass es schon bei der letzten Bundestagswahl für die Linkspartei ziemlich knapp war.

Das kann man wohl sagen!

Bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 vergeht noch ein bisschen Zeit. Allerdings sind die aktuellen Umfragewerte der Linkspartei nicht wirklich vielversprechend.

Nein, das sieht nicht gut aus. Die ARD (der aktuelle Deutschlandtrend von Infratest Dimap, Anm. der Red.) gibt uns 3 Prozent.

Deshalb sage ich jetzt, sobald wir eine Gruppe gebildet haben, starten wir im Bundestag wieder durch. Und auch in der Partei muss es wieder eine Aufwärtsentwicklung geben. Es gibt ja auch Umfragen, wo wir etwa nach der Auflösung der Fraktion im Osten von 11 auf 5 Prozent abgesackt sind, aber inzwischen wieder zwei Prozent zugelegt haben. Das ist ganz interessant, wie sich das so allmählich wieder stabilisiert. Aber dazu muss man Leidenschaft entwickeln und zweckoptimiert sein.

Sie haben zuletzt mehrfach gesagt, dass Sie merken, wie die Leidenschaft in Ihnen stärker geworden ist, und dass Sie die Partei retten wollen. Heißt das, dass Sie nun politisch noch einmal Vollgas geben werden?

Na ja, auf jeden Fall beschäftige ich mich wieder mehr damit. Ich habe ja jahrelang keine Parteiveranstaltungen mehr gemacht, jetzt war ich aber in Leipzig, Dresden und so weiter. Da baue ich die Leute wieder auf. Die kommen immer frustriert rein und gehen dann doch leidenschaftlicher, lockerer und aufgebauter wieder raus.

Ich will jetzt auch wieder öfter zu bestimmten Themen im Bundestag reden. Wahrscheinlich werde ich auch auf dem nächsten Parteitag im Oktober 2024 sprechen. Also ich engagiere mich politisch stärker.

Das hängt auch mit meinem Beruf als Rechtsanwalt zusammen. Zu einem Rechtsanwalt kommen nie glückliche Leute. Immer geht es um Probleme und Krisen. Weil ich schon seit meinem 23. Lebensjahr Rechtsanwalt bin, ziehen mich Probleme und Krisen an. Das ist eine kleine Krankheit, mit der ich jedoch ganz gut umgehen kann. Es reizt mich einfach, weshalb ich mir jetzt sage: „Ne, so kann ich Die Linke nicht untergehen lassen“.

Es wäre aber auch verständlich, wenn Sie das Handtuch werfen würden. Sie werden ja im Januar auch schon 76.

Ich fühle mich ja einigermaßen fit. Ich habe fünf Berufe gleichzeitig: Ich bin Politiker, Rechtsanwalt, Podcaster, Moderator und Autor. Das reicht ja. Gleichzeitig nimmt das jetzt alles wieder zu. Nun habe ich in der letzten Zeit Außenpolitik (Gysi hat im September sein Amt als außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion niedergelegt, Anm. d. Red.) gemacht. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine, dann die Hamas gegen Israel, jetzt Israel im Gazastreifen. Das sind alles Themen, die mich natürlich auch emotional sehr beschäftigen.

Aber es stimmt schon, es ist in mir noch neue Leidenschaft entstanden. Allerdings mit der Einschränkung, dass ich gesagt habe, für die danach folgende Krise, also die dann sechs Jahre später kommt, bin ich nicht mehr zuständig. Das ist die letzte, um die ich mich kümmere.


Gregor Gysi wird gemeinsam mit Hans-Dieter Schütt am 5. März 2024 in der Flora im Rahmen der lit.Cologne sein Buch „Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi“ vorstellen. Tickets im Vorverkauf ab 18 Euro. Mehr Informationen auf litcologne.de

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