Kölner NeumarktSo lief das Kulturexperiment auf dem „Problemplatz“

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In einem gelben Pavillon liest die Autorin Lisa Ray vor Publikum.

Im Sommer soll ein ambitioniertes Literaturprogramm jeden Tag den Neumarkt beleben. Funktioniert das? Lesung von Lisa Roy auf dem Neumarkt

Auf dem Kölner Neumarkt lesen Autoren vor Publikum in einem offenen Pavillon. Was geschieht, wenn Fiktion auf die harte Wirklichkeit der Großstadt trifft?

Ist der Kölner Neumarkt noch zu retten? Zumeist sind die Passantinnen und Passanten bestrebt, diesen Knotenpunkt des Nahverkehrs so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Ein „Problemplatz“, wie Oberbürgermeisterin Henriette Reker ihn nennt. Soeben erst bestätigte ein Polizeisprecher in dieser Zeitung die „Sogwirkung“ des Neumarkts für Drogensüchtige und Dealer. Aktuell allerdings gibt es ein deutliches Bemühen, die Aufenthaltsqualität zu heben. Zwar sprudelt der Brunnen noch nicht. Auch gibt es keine Gastronomie. Doch die Kultur ist schon mal da. Zumindest einen Sommer lang.

Die Initiative „Neumarkt – Nimm Platz“, realisiert von Kulturamt und Freier Szene, bietet seit Ende Juni und noch bis zum 27. August ein kostenloses Potpourri in und um den gelben Pavillon der Künstlerin Erika Hock. Außerdem ist die Open-Air-Ausstellung „Mittendrin“ mit Wolfgang Zurborns oft witzigen und farbenfrohen Detailblicken auf Menschen und Plätze in Köln der späten 1980er und frühen 1990er Jahre zu sehen. „Viele Menschen erzählen uns, dass sich jetzt der Platz - zumindest tagsüber - viel angenehmer anfühlt“, sagt Markus Schaden vom PhotoBookMuseum, das die Schau auf dem Areal arrangiert hat. Hier habe sich gezeigt, dass Kultur „spontan, schnell und effizient“ sein könne.

Die Zwischenbilanz von Kulturdezernent Stefan Charles klingt geradezu euphorisch

Auch die Zwischenbilanz von Kulturdezernent Stefan Charles klingt geradezu euphorisch: „Wir haben am Neumarkt wirklich etwas Großartiges geschaffen.“ Das Feedback sei durchweg positiv - „vor allem, weil die Menschen den Platz wirklich neu erleben“. Auch als Installation und Sitzgelegenheit werde der Pavillon sehr gut angenommen und sei „immer gut besucht“.

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Die große Konstante in diesem Kulturangebot sind die täglichen Lesungen, die der Verein Literaturszene Köln organisiert hat. Ulrike Anna Bleier, die dort ihren Roman „Spukhafte Fernwirkung“ präsentierte, lobt die Plattform: „In Erika Hocks gelbem Pavillon kann man wunderbar sitzen und schauen, wer sonst noch da sitzt und vorbeikommt, wer sitzen bleibt oder wer weitergeht.“ Es sei „ein guter Ort zum Geschichten hören und Geschichten erzählen“.

Die Autorin Lisa Roy sitzt mit offenem Buch an einem Tisch und spricht in ein Mikrofon.

Lisa Roy auf dem Neumarkt

Dieser Pavillon „steht im besten Sinn im Weg“, meint die Lyrikerin Anke Glasmacher, die dort aus „Zwanzig/Vierzehn – Ein Nachrichtenjahr“ gelesen hat: „Menschen, die eilig den Platz überqueren wollen, bleiben irritiert stehen.“ Es ist aber auch ein sehr spezieller Ort. Der Vortrag in dieser „Lärmkulisse“ sei anstrengender als üblich gewesen, sagt Stan Lafleur, der den Lese-Reigen im Juni mit seinem Band „Am Rande der Wahrscheinlichkeit von Mexiko“ eröffnet hat. Aber immerhin: „Publikum hatte ich am ersten Tag reichlich“, erinnert er sich, sogar „mehr als erwartet, auch Laufpublikum darunter.“ Der auffällige gelbe Pavillon habe die Passanten neugierig gemacht und sei gut angenommen worden, „auch für Sitzpausen anstatt Kulturminuten“.

Für Yannic Han Biao Federer war es ebenfalls „eine sehr besondere Lesung“, bei der er unter anderem seinen Roman „Tao“ vorstellte. Er erinnert sich: „Wann immer es laut wurde in der Erzählung, hat der Neumarkt mitgeholfen, haben rechtzeitig Autos gehupt, hat wer gerufen, gebrüllt, ist eine Straßenbahn herbeigerumpelt, es war sozusagen ein spontan inszeniertes Live-Hörspiel, ab und zu kam auch wer vorbei und fragte, was hier los sei, da konnte ich dann kurz unterbrechen und sagen: eine Lesung, setz dich doch.“ Sein Resümee: „Es war sehr schön, die Bühne können wir dort noch brauchen.“

Der gelbe Pavillon kann Armut nicht beseitigen und Beton nicht verwandeln, aber er hat umgehend die Funktion eines Marktplatzes übernommen
Joachim Geil

Bettina Fischer, die Leiterin des Literaturhaus Köln, hatte die Idee zu diesem Lesereigen: „Wir gehen auch gerne auf unser Publikum zu“, sagt sie, „und wollen nicht nur darauf warten, dass es zu uns kommt.“ Nach ihrer Beobachtung hat sich der Sommer-Pavillon zudem zu einer Adresse entwickelt, an der sich Schreibende treffen und austauschen. So wie Joachim Geil. Nicht nur hat er selbst gelesen, nämlich aus „Die närrische Wendigkeit der Bachstelzen“, sondern auch Kolleginnen und Kollegen besucht. „Immer war ich von Leben umgeben, von Literaturinteressierten, aber auch von Leuten, die einfach vorbeikommen oder eigene Interessen auf dem Neumarkt verfolgen“, sagt er.

Die ausgewählten Texte kommen dem Ort zuweilen sehr nahe. So gerade erst geschehen beim sonnig umstrahlten Auftritt von Lisa Roy, die in ihrem Roman „Keine gute Geschichte“ auch von der Unwirtlichkeit der Städte handelte. Oder bei der regenumwehten Lesung von Adrian Kasnitz, in dessen Gedichtband „Im Sommer hatte ich eine Umarmung“ die Rede ist von Menschen, die in Planen schlafen, und ebenso vom „Nicht einsteigen“-Bus. Gleich schweift der Blick, um solche Passagen mit der Wirklichkeit abzugleichen.

Bettina Fischer hält es für „absolut wünschenswert“, dass am Neumarkt weiterhin Kultur angeboten wird. „Die Kultur verändert den Platz“, meint sie. Joachim Geil ist gar der Ansicht, dass das Kultur-Programm den Neumarkt „erst als möglichen Platz für alle“ erschaffe. Auch Anke Glasmacher plädiert für eine Fortsetzung: „Der gelbe Pavillon kann Armut nicht beseitigen und Beton nicht verwandeln, aber er hat als Kulturbüdchen umgehend die Funktion eines Marktplatzes übernommen. Ich hoffe, er darf bleiben, bespielt werden und so erster Baustein für den zukünftigen Neu-Markt sein.“

Darf der Pavillon bleiben? Kulturdezernent Stefan Charles wertet die Akzeptanz des Kultur-Programms als „eine tolle Bestätigung“. Gleichwohl werde der Pavillon Ende des Monats erst einmal eingelagert. Aber wenn „die Rahmenbedingungen stimmen“ sollten, wie er sagt, sei eine Fortsetzung möglich: „Wir würden natürlich sehr gerne auch im nächsten Frühjahr und Sommer wieder ein kostenloses Kulturangebot machen - dann zusammen mit dem Brunnen und einem Gastroangebot.“


Noch bis zum 27. August gibt es neben den Lesungen noch die Kurzfilmreihe „Stattkino“, Konzerte von Experiment bis Lateinamerika, zudem Lesungen, Vorträge („Ist das Kunst?“), Tanzaufführungen, Gespräche und Platzbesichtigungen. Das komplette Programm gibt es auf den Seiten der Stadt Köln: https://www.stadt-koeln.de/leben-in-koeln/kultur/kulturfoerderung/kultur-am-neumarkt

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