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Krieg gegen die UkraineWas würde Lew Kopelew dazu sagen? Ein Gastbeitrag

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Lew Kopelew

Köln – Als das 21. Jahrhundert begann, beklagte der renommierte WDR-Journalist Klaus Bednarz öfters, wie sehr ihm nach vielen Konflikten in der Gesellschaft, insbesondere in Osteuropa die Stimmen eines Heinrich Bölls (1917-1985) und eines Lew Kopelews (1912-1997) fehlen. Diese drei Männer gehörten zwei Generationen an, die eine gemeinsame Frage verband: Wie konnten Deutsche und Russen nach den Gräueltaten des Nazi-Deutschlands, des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs wieder zueinander finden?

Vielleicht erinnern sich noch einige Kölner an das 1979 im WDR ausgestrahlte eindrucksvolle Gespräch, das Klaus Bednarz mit Heinrich Böll und Lew Kopelew führte. „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ fragten einander der ehemalige Gefreiter der Wehrmacht und der ehemalige Propagandamajor der Roten Armee.

Mit Heinrich Böll fragte Kopelew: Warum haben wir aufeinander geschossen

Als Zeitzeugen und Teilnehmer des schrecklichen Zweiten Weltkrieges wollten sie die Nachgeborenen vor der Verführung durch Ideologien jeder Couleur warnen. Die diesen Systemen inhärenten Populismus und die möglichen Manipulationen schürten Feindbildern und führten zu neuen Kriegen.

Am 9. April wäre Lew Kopelew, der gebürtige Kiewer, Germanist und Bürgerrechtler 110 Jahre alt geworden. Zu gerne hätten wir ihn gefragt, was er zum heutigen Krieg gegen die Ukraine sagen würde. Zeit seines Lebens setzte er sich mit ganzer Kraft für ein einiges Europa und ein Russland als selbstverständlicher Teil von Europa ein. Schon einmal hat Kopelew die Zerstörung Kiews erlebt und diese im ersten Band seiner biografischen Trilogie „Und schuf mir einen Götzen“ beschrieben:

„Im Krieg empfand ich mehr als einmal grenzenlosen, unstillbaren Schmerz bei der Nachricht vom Tode mir naher Menschen. Ich kannte Angst und Verzweiflung. Aber nur zweimal konnte ich die Tränen nicht zurückhalten: am 20. September 1941, als ich im Radio den deutschen Wehrmachtsbericht hörte, die triumphalen Worte des Feindes: Über Kiew weht die Hackenkreuzfahne… Und im April 1944, als ich in das befreite Kiew kam und auf dem Kreschtschatik, unserer schönsten Straße, zwischen Schuttbergen und rauchschwarzen Häuserskeletten herumirrte. Ich erinnerte mich an alles und erkannte nichts wieder. Blind von Tränen, sah ich die Passanten nicht.“

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Mit dem Eintreten von Gorbatschows Perestroika und dem Fall der Berliner Mauer begann man am Europäischen Haus zu bauen und lebte in der Zuversicht, die Kriege auf diesem Kontinent im 20. Jahrhundert zurückgelassen zu haben.

Doch nun führt Putins Russland einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, verletzt nach der Annexion der Krim 2014 abermals das Völkerrecht und spricht der Ukraine die Daseinsberechtigung ab. Kopelew wies bereits im Jahre 1983 in einer Publikation zu ukrainischen Dissidenten in sowjetischen Gefängnissen darauf hin, dass gegen die Ukraine schon seit langem ein politischer und kultureller Kampf geführt wurde:

„Das ukrainische Volk hatte seit mehreren Jahrhunderten einen sehr schweren Kampf gegen fremde Mächte auszufechten, sowohl gegen staatspolitische Gewalten wie gegen Unterdrückung des geistigen kulturellen Lebens.”

Jahrhunderte lang wurde die ukrainische Sprache unterdrückt

Jahrhunderte lang war die ukrainische Sprache unterdrückt oder verboten und die Bevölkerung einer permanenten Zwangsrussifizierung ausgesetzt. Wie kein anderer wusste Kopelew um die Bedeutung der Sprache für die nationale Existenz:

„Die Ukrainer hatten es schwerer, weil ihre Heimat bereits seit dem Mittelalter immer wieder von eroberungswütigen Nachbarn und Eindringlingen in Stücke zerrissen wurde. (…) Vereint wurden sie aber durch die Sprache und noch mehr durch die Literatur, die Poesie.“

Nicht weniger würde Lew Kopelew das Herz zerreißen, dass Putins Politik innenpolitisch in Russland verbrannte Erde hinterlässt. Denn spätestens seit der manipulierten Wiederwahl Putins im Jahre 2011 wurden praktisch alle demokratischen Entwicklungen und Institutionen in Russland schrittweise zerstört. Alle freien und unabhängigen Medien wurden direkt oder indirekt dieses Jahr gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Die erste und älteste NGO Russlands, die Geschichts- und Menschenrechtsorganisation MEMORIAL, ist inzwischen de facto verboten worden. Das Sacharow-Zentrum, welches das Vermächtnis des Physikers, Nobelpreisträgers und Dissidenten Andrej Sacharows fortführte, musste ebenso die Arbeit einstellen.

MEMORIAL gehört zu den Kopelew-Preisträgern

Auch die junge NGO OVD-Info, der einzig verlässliche Hort, der politische Verhaftungen dokumentiert und Anwälte zur Verfügung stellt, ist als Ausländischer Agent gebrandmarkt worden, was die Arbeit beinahe unmöglich macht. MEMORIAL und OVD-Info gehören zu den Lew-Kopelew-Preisträgern, was jedoch im heutigen Russland keinen Schutz vor Verfolgung mehr bietet. Im Gegenteil.

Nun hat Europa über zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Aber auch über 100.000 regimekritische Russen haben wegen der zunehmenden Repression das Land verlassen müssen. Fast auf den Monat genau nach 78 Jahren wurde Kiew wieder bombardiert. Diesmal nicht von den Deutschen, sondern von der russischen Armee auf Befehl Putins.

Solange der Krieg nicht an die unmittelbaren Grenzen Westeuropas herangerückt war, in vermeintlich friedlichen Zeiten, schien die Generation Lew Kopelews zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Ihre gebrochenen Biografien, geprägt von der Gewalterfahrung der totalitären Regime, des Zweiten Weltkrieges und dem Scheitern von Lebensentwürfen, schienen für die von der Selbstverständlichkeit des Friedens verwöhnte nun mehr dritte Nachkriegsgeneration Westeuropas obsolet.

Was Kopelew schrieb, klingt heute bedrückend prophetisch

Dabei hat sich Butscha schon jetzt in das kollektive Gedächtnis Europas eingebrannt. Wir können nur vermuten, was heute Kopelew gesagt hätte. Doch 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges meinte er im Gespräch mit dem Osteuropahistoriker Gerd Koenen:

„(…) der Mai 1945 [war] eine unbestreitbare Erlösung: Erlösung vom Schrecken des Krieges, des grausamsten aller Kriege, und von einem totalitären Terrorregime, das die Welt bedrohte. Dagegen war das Kriegsende für die Russen und für die Menschen im Osten, auch für die Ostdeutschen, zwar eine Erlösung, vom Kriege und von der verderblichen Nazi-Herrschaft; aber zugleich war es der Beginn neuer Heimsuchungen. Und die schwerste Niederlage von allen erlitt vielleicht Russland. Jalta bedeutete auch für Russland den nochmaligen Triumph der unumschränkten totalitären Herrschaft Stalins; und zugleich ein Anwachsen des Chauvinismus, des Großmacht-Chauvinismus, nach innen wie nach außen. Heute zeigen sich die Folgen im Zerfall der Sowjetunion, des früheren Ostblocks, im Krieg in Jugoslawien und in dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Krisen.“

Bedrückend prophetische Worte, die im Westen, insbesondere im wieder vereinten Deutschland, wie man heute deutlicher sehen kann, nicht ernst genug genommen wurden. Umso dringender möchte man den heutigen Lesern die Werke von Hannah Arendt und Lew Kopelew als Pflichtlektüre ans Herz legen.

Die Autorinnen sind: Maria Birger (Beiratsmitglied des Lew-Kopelew-Forums) und Maria Klassen (Vorstands- und Beiratsmitglied des Lew-Kopelew-Forums).