lit.CologneKölns Lesefest muss sich noch einmal ganz neu erfinden

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Es soll „nach was aussehen“ – aber nicht nach Fernsehen.

Es soll „nach was aussehen“ – aber nicht nach Fernsehen.

Köln – Größer könnte der Kontrast kaum sein: Nach trüben Wochen strahlt am Montag die Sonne über Köln. Im Rheinpark sind Spaziergänger, Jogger und Radfahrer unterwegs, die Eisbude am Tanzbrunnen hat Hochbetrieb, Corona scheint fast vergessen. Im Theater am Tanzbrunnen hingegen ist es dunkel, ruhig, konzentriert. Der gefühlt erste Sommertag des Jahres muss draußen bleiben.

Die lit.Cologne hat das Theater in diesem Jahr notgedrungen zu ihrer Festivalzentrale gemacht. Nachdem das Festival im vergangenen Jahr ganz ausfallen musste, war es dieses Jahr als Hybridveranstaltung geplant. Doch die Lage Mitte Mai war zu unsicher und so entschied man sich schließlich für eine rein digitale Ausgabe.

Die Livestreams werden im Theater am Tanzbrunnen produziert. Rein dürfen nur Team und Mitwirkende, alle sind getestet, Publikum muss draußen bleiben. Das Theater sieht in diesen Tagen eher nach Fernsehstudio als nach Bühne aus. Dunkel ist es in dem großen Saal, in der Mitte steht ein Kubus aus LED-Leuchtröhren, die in unterschiedlichen Farben strahlen können. Es entsteht der Eindruck eines Zimmers, in dem drei Sessel und Tischchen stehen. Mehr nicht, das Festivalgefühl soll ja bleiben. Im Hintergrund leuchtet eine einsame Stehlampe. 

Dreimal so aufwendig

„Das muss nach was aussehen“, beschreibt Produktionsleiterin Rieke Brendel die Überlegungen im Vorfeld. Deshalb hat die lit.Cologne mit Experten für Streaming und Licht und Setdesignern zusammengearbeitet, um diese Bühne zu erschaffen. Das Ziel war es, die Festivalatmosphäre zu bewahren. „Das soll nicht aussehen wie Fernsehen“, so Brendel. „Alles, was wir gemacht haben, war dreimal so aufwendig wie sonst. Wir haben uns nochmal neu erfunden.“

An diesem Abend geht es um ein Thema, das Corona ebenso ins Dunkel gedrängt hat wie die lit.Cologne. Über die Frage „Moria – und weiter?“ spricht WDR-Moderatorin Isabel Schayani mit dem luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn und dem Migrationsforscher Gerad Knaus.

Hunger im Flüchtlingscamp

Zu Beginn berichtete Schayani, die die Flüchtlingslager an den Außengrenzen der europäischen Union regelmäßig besucht und dafür jüngst mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, über einen Chat mit einer jungen Syrerin, die in Griechenland festsitzt. Drei kleine Kinder hat sie, mit dem vierten ist sie schwanger.

Das Lager Kara Tepe, wo sie nach dem Brand in Moria leben, dürfen sie einmal die Woche für vier Stunden verlassen, oft berichtet sie von Hunger, manchmal schickt sie Bilder von verschimmeltem Essen. „Sie wünscht sich von der griechischen Regierung als Kriegsgefangene behandelt zu werden“, sagt Schayani, denn diese würden wenigstens vernünftig ernährt.

Wie kann Europa das zulassen, so kurz bevor sich die Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention zum 70. Mal jährt? Diese Frage schwebt über allem an diesem Abend. „Ist die Situation politisch gewollt?“, will Schayani von Asselborn wissen. Von einigen sicher, sagt der Luxemburger. „Ich bin mir nicht mehr sicher, dass alle Innenminister der europäischen Union der Meinung sind, dass man Ertrinkende retten muss“, sagt er. Das sei ein fundamentaler Unterschied zu 2015. „Es ist beschämend, wie die europäische Migrationspolitik aussieht.“

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Die politische Solidarität werde von Regierungschefs wie Viktor Orban ad absurdum geführt. „Für ihn ist das ein Krieg.“ Die, die kommen, betrachte er als Invasion, die man deshalb mit allen Mitteln zurückweisen dürfe. Er und andere Politiker seien überzeugt, dass sich Europa die Werte der Genfer Konventionen, die nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs verfasst wurden, nicht mehr leisten könne. „Europa kann zerbrechen an dieser Unsolidarität“, so Asselborn.

Der luxemburgische Außenminister hofft noch auf eine solidarische Lösung, doch Gerd Knaus ist überzeugt, dass einige Länder voranschreiten müssen, um durch konstruktive Lösungen zu beweisen, dass Push-Backs nicht das geeignete Mittel sind, um die Flüchtlingsfrage zu lösen. Er setzt auf Resettlement, wie es etwa die USA (vor und nach Trump) und Kanada praktizieren. Dafür gebe es auch in Europa eine breite Zustimmung.

Abwechslung dank Technik

Während Schayani, Asselborn und Knaus nach Lösungen suchen, werden sie im Theater am Tanzbrunnen von fünf Kameras aufgezeichnet, eine davon ist eine Polcam, die an einem Kran durch den Saal gelenkt wird und Bilder aus sehr unterschiedlichen Perspektiven bietet. Denn auf der Bühne wird zwar viel geredet, aber es passiert nicht viel. Dank der Technik sind trotzdem abwechslungsreiche Bilder möglich. 25 bis 30 Mitarbeiter umfasst die Technik-Crew – Kamera, Bildregie, Bildmischer, Ton und Licht.

Aber wie viele Menschen kann man nach mehr als einem Pandemie noch mit Streams erreichen? An die Zuschauerzahlen einer normalen lit.Cologne kann ein solches Festival nicht heranreichen. Das war den Machern klar. Mit den bisherigen Zahlen sind sie dennoch zufrieden. Rund 4500 Festivalpässe wurden bisher verkauft, dazu kommen noch einmal mehr als 5000 Tickets für ein einzelne Veranstaltungen.

Bei T.C. Boyle am Donnerstagabend schalteten 1000 virtuelle Besucher ein. Was die Programmverantwortlichen besonders freut, ist die lange Verweildauer. Im Durchschnitt schauten sie bisher 55 Minuten zu.

Stimmung mit Suppe

Nach der Veranstaltung sitzen Schayani, Knaus und viele Teammitarbeiter auf Bierbänken draußen im Cateringbereich. Es ist noch etwas Zeit bis zur nächsten Veranstaltung mit Eckart von Hirschhausen. Bei Getränken, Suppe und belegten Broten kommt dann sogar noch ein kleines bisschen Festivalstimmung auf. Aber die Sehnsucht nach einer normalen Ausgabe, nach den Abenden vor ausverkauften Sälen und im Festivalzentrum im Schokoladenmuseum ist trotzdem spürbar.

Dennoch nimmt Rieke Brendel aus diesem Zwischenjahr, wie es intern heißt, doch etwas Positives mit: „Wir lernen hier total viel. Und davon werden wir auch etwas mitnehmen.“

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