Neues Album von Adele„Mama hatte in letzter Zeit viele große Gefühle“

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Adele 

Los Angeles – Hoffentlich versteht Adele das jetzt nicht falsch, ich möchte ihr wirklich nicht zu nahe treten, aber ich hätte gerne eine Instrumental-Version von „My Little Love“. Also ohne ihre Stimme. „My Little Love“ ist der dritte Song auf ihrem vierten Studioalbum, „30“. Und Adele Adkins ist, das kann man schon so sagen, die berühmteste Stimme auf dem Erdenrund. Aber sie ist auch wie du und ich: Ein Mensch im Wachstum, niemals ganz fertig, voller Selbstzweifel und wenig strahlender Momente.

Erstere legt sie in „My Little Love“ schonungslos offen. Es fängt an mit dem Bekenntnis „Ich habe einen schlechten Tag,  im weiteren Verlauf wechselt sich dann Adeles Gesang mit „field recordings“, also authentischen Audiomitschnitten, von Gesprächen zwischen ihr und ihrem neunjährigen Sohn ab. „Mami hatte in letzter Zeit viele große Gefühle“, erklärt Adele dem verunsicherten Kind, dass die Scheidung seiner Eltern miterleben muss, was man ja keinem Kind wünscht, egal wie gut versorgt es dabei ist.

Später dürfen wir einem verheulten Telefongespräch zwischen der Sängerin und einer Freundin lauschen – man fühlt sich dabei definitiv wie ein Stasi-Aushorcher, wie Ulrich Matthes mit Riesenkopfhörern –, in dem die inzwischen von ihrem Mann getrennte Adele gesteht, dass sie sich nun zum ersten Mal wirklich einsam fühle, „paranoid, gestresst, verkatert“. Dazu summt wortlos ein Frauenchor, ein warmer Neo-Soul-Basslauf wie von einer D’Angelo-Platte gibt den aufbrandenden Gefühlen Grund und Boden, und am Ende adelt noch eine Streicher-Coda die Aufnahme.

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In Gefühlsgewittern

Na ja, und da dachte ich mir, wie schön es wäre, könnte ich bei meinem nächsten Emotionsgewitter einfach auf „Start“ drücken und mich ebenso musikalisch begleiten lassen.

Wie zu jeder ihrer bisherigen Veröffentlichungen, fand sich auch diesmal wieder ein Kritiker (El Hunt vom „New Musical Express“), der über Adeles wenig phantasievolle, dafür umso klischeereichere Texte beschwerte. Dabei sind genau die doch ein (es gibt noch ein paar mehr) wichtiger Faktor ihres Erfolgs. Der mag schwindelerregend sein – mehr als 120 Millionen verkaufte Tonträger bis jetzt – aber die Dinge, von denen Adele singt, und die Sprache, in der sie von diesen Dingen singt,  sind von größtmöglicher Nahbarkeit. Könnten wir nur singen wie Adele, es hörte sich ganz genauso an.

Das ist selbstredend eine gekonnte Illusion. Man nennt sie Authentizität. Und Adele bleibt die unbestrittene Meisterin in der Zauberkunst des Echten.

Ehe zerbrochen

Die numerischen Titel von Adeles Alben – „19“, „21“, „25“ und jetzt eben „30“ – beziehen sich nicht auf ihr jeweiliges Alter bei Veröffentlichung, sondern auf das Lebensjahr, dessen Ereignisse musikalisch durchlebt und verarbeitet werden. Adele ist 33, ihre Ehe ist vor drei Jahren zerbrochen und davon und vom mühsamen Neubeginn handelt jeder Song auf „30“. Nun gibt es Scheidungsalben, in denen sich die Ex-Partner noch einmal alles an den Kopf werfen, was sie in den gemeinsamen Jahren zurückgehalten hatten, etwa Richard & Linda Thompsons „Shoot Out the Light“, oder solche, auf denen der Künstler auf Rache und Richtigstellung sinnt, wie zum Beispiel Marvin Gayes „Here, My Dear“.

Beides liegt Adele denkbar fern. Und für eine Szenen-einer-Ehe-Chronik wie Björks „Vulnicura“ ist „30“ schlicht zu undiszipliniert, auf die Selbsterkenntnis kann hier der nächste Fehler im altbekannten Verhaltensmuster folgen. Wie im richtigen Leben.

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Adele 

Musikalisch ist Adele abenteuerlustiger geworden. Nicht zu sehr. Ihren Scherz im Vorfeld der Veröffentlichung, dass sie ein reines Drum’n’Bass-Album aufgenommen habe, hatte ihr sowieso niemand abgenommen. Aber immerhin: Zwischen den ausufernden Pianoballaden finden sich kurze, zögerliche Ausflüge in neues Terrain. Angefangen mit dem von Filmkomponist Ludwig Göransson („Black Panther“, „The Mandalorian“) mitgeschriebenen Technicolor-Intro „Strangers by Nature“, in dem Adele in den gleichen Vor-Beatles-Popgefilden fischt, wie Billie Eilish auf ihrem aktuellen Album. Auch „Woman Like Me“ hätte mit seinem leichten Bossa-Nova-Schwung ebenso gut auf „Happier Than Ever“ Platz finden können. Adele warnt darin einen zukünftigen Partner vor ihrem Beziehungs-Deal-Breaker Nummer Eins (Selbstgefälligkeit, übrigens).

„Cry Your Heart Out“ ist ein Stück zuckerwattenleichten Motown-Pops und inmitten all der Weh- und Schwermütigkeit genauso willkommen wie „All Night Parking“, das frische Verliebtheitsgefühle in perlende Pianoläufe und sanft schaukelnde Rhythmen übersetzt und wie ein verlorener Outtake von Lauryn Hills „The Miseducation of Lauryn Hill“ klingt. „Love Is a Game“, das finale Stück, ist Adeles Update einer klassischen Burt Bacharach/Hal David-Nummer. Das macht Sinn, denn das Brill-Building-Team ist für den Scheidungssong das, was Botticelli und da Vinci für die Malerei waren.

George Michaels Erben könnten klagen

Nicht alle Genre-Ausflüge auf „30“ sind so gelungen: Chartsgott Max Martin setzt im Popsong „Can I Get It“ auf einen enervierend gepfiffenen Refrain. Zudem dürften sich die Erben von George Michael wegen des aus dessen „Faith“ entliehenen trockenen Akustikgitarren-Motivs einen Besuch beim Anwalt überlegen. In „Oh My God“ wiederum versucht Adele vergebens ihren eigenen Hit „Rolling In the Deep“ mit Hilfe hochgepitchter Stimmen und afrikanisch angehauchter Melodiebögen fortzuschreiben – und mit abnehmenden Erträgen.

Doch vor allem bleibt sie eine verlässliche Größe. Und das ist, wenn man schon die Größte der Großen ist, ja auch gut so: „Easy On Me“, die Vorabsingle, ist ein Instant-Klassiker, den man noch in den kommenden Jahrzehnten betrunken in Karaoke-Bars schmettern wird, nur halt lange nicht so perfekt wie Adele. Überhaupt singt sie auf „30“ so gut wie noch nie, verlässlich wie Angela Merkel, zerbrechlich wie Greta Garbo, technisch versiert wie Mariah Carey.  

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Gut nachzuhören auf „Hold On“: Zu sparsamen Piano-Akkorden duettiert Adele mit ihrer eigenen, geisterhaft verhallten Stimme – ältere Leserinnen und Leser dürfen ruhig an das Lenor-Gewissen aus der Waschmittelwerbung denken –, um sich später mit voller Band-Begleitung nach „Hey Jude“-mäßiger Befreiung zu strecken, was nicht ganz funktioniert.

Besser auf „To Be Loved“, dem vorletzten der zwölf neuen Stücke, in dem Adele noch einmal den Gewinn resümiert, den sie aus dem Scheitern ihrer Ehe gezogen hat. In Broadway-Musicals nennt man das die „11 o’clock number“, den Showstopper, der das Publikum noch einmal emotional auf die Bretter legt, kurz bevor es zu den Ausgängen eilt. Das ist dann leider auch das Problem von „To Be Loved“: Es ist arg theatralisch geraten, man sieht die Kulissen wanken.

Am besten funktioniert der Adele-Zauber auf dem launig betitelten „I Drink Wine“, einem gesungenen 12-Punkte-Selbsthilfe-Programm. Als Kind, klagt Adele, habe sie noch gierig die Wunder des Lebens eingesaugt, „now I only soak up wine“. „Warum suche ich die Anerkennung von Leuten, die ich gar nicht kenne?“, fragt sich die Sängerin und ringt hörbar mit der schweren Aufgabe der Selbstüberwindung. Wie wir alle. Ein Chor coacht sie dabei und nach ausgedehntem Ringen mit den eigenen Unsicherheiten drängt sich eine Hammond-Orgel in den Vordergrund und Adeles letzte Zeilen werden zu einer Predigt mit Kirchenhall.

Sie ist unser Chor und unsere Pfarrerin und auch unsere Schmerzensfrau. Große Gefühle haben wir alle, ausdrücken kann sie niemand so gut wie Adele.

Adele „30“ ist bei Columbia/Sony Music erschienen

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