Ich verstehe all die Argumente vom überforderten Sozialstaat. Aber jemandem zu sagen, du hast hier keine Heimat – das scheint mir trotzdem einfach falsch. Ein Gastbeitrag von Heino Falcke.
„Weiß nicht, wo mein Zuhause ist“Unterwegs zwischen Hauptbahnhof und Neumarkt

Obdachlose am Kölner Hauptbahnhof
Copyright: Leserfoto/KStA
Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich oft fern der Heimat bin, und ich freue mich jedes Mal, wenn ich danach wieder in meinem eigenen Bett schlafen kann. Diesmal kam ich von einem inspirierenden Kirchentag aus Hannover zurück, wo ich mich unter singenden Menschen in Straßenbahnen und vollen Messehallen auf eine andere Art und Weise zu Hause gefühlt habe. Zusammen mit meiner Frau hatte ich aus unserem Kinderbuch gelesen und mit ein paar kleinen Kirchentagsbesuchern eine Reise durch unsere wunderschöne kosmische Heimat gemacht.
Als wir uns nun dem Rhein näherten, rief ein Kind entzückt: „Schau mal, der Dom!“ Auch mein Herz hüpfte: Er steht wirklich noch da! Es ist zwar ein abgelutschtes Klischee, aber dank kölscher Heimatliebe freue ich mich tatsächlich wie Bolle, wenn ich den Dom wieder sehe. Seine zwei Spitzen geben mir das Gefühl von Heimat – in jeder Hinsicht. Etwas irritiert war ich beim Ankommen aber dann doch: Der Zug war pünktlich, die Straßenbahn fuhr, und auch alle Rolltreppen liefen. Irgendetwas stimmt doch hier nicht, fragte ich mich insgeheim. Vielleicht bin ich ja in einem Paralleluniversum angekommen? Das Gefühl löste sich aber sofort auf, als ich am Neumarkt stand und mir ein Bettler eine Papptasse mit der Bitte um ein Almosen unter die Nase hielt. Also doch alles wie gewohnt!
Junge Frau allein auf der Straße
Nach meinem Eindruck hat die Zahl der Bettler und Obdachlosen deutlich zugenommen. Ich zückte mein Portmonee. Tatsächlich habe ich mit mir selbst vereinbart, dass ich nicht lange frage oder gar belehre, wenn mich jemand freundlich bittet und ich gerade etwas Zeit und Kleingeld übrighabe. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, hat Jesus einmal gesagt. Das bisschen Geld tut mir nicht weh, und jemand anderes freut sich. Also gab ich zwei Euro sowie ein kurzes Lächeln. Ich bekam ein Lächeln zurück.
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Der Mann ist nicht von hier, dachte ich. Was hat ihn nach Köln verschlagen? Wo ist seine Heimat? Ich kam nicht mehr dazu, meine Fragen zu stellen. Die Bahn traf ein – und der Mann war weg. Unwillkürlich dachte ich daran, wie ich das letzte Mal nachts hier an diesem Ort stand. Eine junge Frau kommt auf mich zu. Auch sie offensichtlich verwahrlost und von Drogen gezeichnet. Sie leiert ihre Geschichte herunter, die sie wahrscheinlich den ganzen Tag erzählt.
Ich habe keine Ahnung, ob sie stimmt, aber es ist mir nicht wichtig. Sie brauche Geld für Essen und eine Unterkunft, sagt sie. Sie sei mit 14 Jahren zusammen mit ihrem Freund von zu Hause weggelaufen. Vier Jahre sei das jetzt her. Ich stutze ein wenig. Für mich sieht die Frau aus wie Ende 30 und nicht wie eine 18-Jährige. Schweigend gebe ich ihr einen Euro. Dann frage ich noch: Was ist passiert? Ihr Freund habe sie verlassen, sagt sie, sie sei jetzt ganz alleine unterwegs. Ich versuche mir vorstellen, was das bedeutet, als junge Frau auf der Straße alleine unterwegs zu sein. Als sie sich schon fast wieder abgewandt hat, frage ich noch einmal nach: „Wäre es nicht Zeit für dich, mal nach Hause zu kommen?“

Der Astrophysiker und evangelische Laienprediger Heino Falcke
Copyright: Michael Bause
Ja, die Frage klingt etwas pastoral. Aber sie lag mir einfach auf dem Herzen. „Ich weiß nicht, wo mein Zuhause ist“, sagt sie, und ich spüre einen Moment echter Betroffenheit. Schweigend gehen wir auseinander. „Wo ist Schwester Helene jetzt?“, frage ich mich. Schwester Helene hatte in Köln die Mitternachtsmission gegründet und sich um solche Menschen wie die junge Frau vom Neumarkt gekümmert. Trotz aller Betroffenheit war ich gerade nicht bereit, ihr selbst ein Zuhause anzubieten. Aus anderen Gesprächen und aus Erfahrung weiß ich, dass man jemanden nicht mit ein paar Worten und ein paar Euros aus der Heimatlosigkeit herausholen kann. Manche wollen es nicht, und andere können es nicht. Man kann den Hebel nicht so einfach umlegen, ein Trauma oder eine Krankheit abschütteln.
So viele Heimatlose
Trotzdem arbeiten die Begegnungen in mir. Eine Heimat zu haben, ist ein besonderes Privileg, merke ich. Wie kann es sein, dass wir eine so wunderschöne Erde haben, ein so wunderschönes Land, eine so wunderschöne Stadt – und doch fühlen sich so viele Menschen heimatlos? Sicher gibt es bei auch noch viele andere, die zwar ein Dach über dem Kopf, aber innerlich nie eine Heimat gefunden haben. Können sie sie deshalb nicht teilen? Wie können wir ohne Angst unsere Türen öffnen für Kinder mitten unter uns, die nicht wissen, was Heimat ist, oder für Menschen, die ihr Zuhause wegen Krieg oder Hoffnungslosigkeit verlassen mussten?
Ich verstehe all die Argumente vom überforderten Sozialstaat, von begrenzter Aufnahmefähigkeit, Schwierigkeiten mit Integration und der Unterschiedlichkeit von Kulturen. Aber jemandem zu sagen, du hast hier keine Heimat – das scheint mir trotzdem einfach falsch. Diese Erde haben wir nicht selber gemacht. Sie gehört allen. Wir sind alle Kinder desselben Universums. Vielleicht lassen sich Heimat und Liebe ja so kombinieren, dass alle etwas davon haben? Pünktlich erreichte ich mein Zuhause. Mit vielen Fragen im Kopf und ohne endgültige Antworten.
Zur Person
Heino Falcke ist Professor für Radioastronomie an der Radboud-Universität in Nijmegen (NL). Er lebt in Frechen. Im Ehrenamt ist Falcke Prädikant (Laienprediger) der Evangelischen Kirche im Rheinland