Zum Auftakt der Kölner Spielzeit singt sich das Schauspielensemble mit der Revue „GRMPF“ den Frust über die Sanierungs-Katastrophe von der Seele.
Schauspiel KölnIntendant Sanchez stellt Henriette Reker als tragische Gestalt vom Offenbachplatz auf die Bühne
Hier vorne an der Rampe, zeigt Anja Laïs der behelmten Besuchergruppe, sei sie als Ophelia ertrunken und als Maria Stuart vom Eisernen Vorhang geköpft worden. Ganz hinten habe sie sich als Lady Macbeth die Pulsadern aufgeschnitten, an der Bühnenseite habe Martin Reinke als Jack the Ripper ihr Lulu zerlegt. „Ich bin all die Jahre so viele Tode gestorben, dass ich auf ein glückliches Leben zurückschauen kann.“ Das Haus am Offenbachplatz: es war einmal. Heute verdingt sich Laïs als Führerin durch Kölns bekanntesten Lost Place.
Der „Geschlossenbachplatz“, ein Schauerbau, nur ein paar Minuten vom Dom entfernt. Das ist eigentlich nicht zum Lachen, sondern ein Skandal, eine Zumutung für die Steuerzahler, eine Katastrophe für die Stadtgesellschaft und ihren Zusammenhalt. Rafael Sanchez, Interims-Intendant im Immer-noch-Interim, und der Autor Mike Müller haben das Thema trotzdem zu einer „Eröffnungsgala zur falschen Zeit, am falschen Ort“ verarbeitet. „GRMPF“ heißt die, der Frust hat die Vokale verschluckt. Wenn nichts mehr hilft, trösten Musik und (Galgen-)Humor, auch wenn eine böse Jelinek-Suada – wie damals zum Archiveinsturz – der Sache angemessener wäre.
Der Offenbachplatz ist die Marina Abramović unter den Baustellen
Eine riesige rosa Schleife schwebt über der Bühne im Depot 1. Aber darunter stauben Schutt und Schrott, die Band unter der Leitung von Cornelius Borgolte spielt auf den Terrassen einer großen Müllhalde, aus der eine überdimensionierte Banane ragt, vielleicht ein Vorschlag für ein realistischeres Stadtwappen. Ein „philosophisches Dreigestirn“ betritt die Dauerbaustelle, die Insignien der Tollitäten – Straußenfedern, rosa Zöpfe – an Plastikhelmen appliziert. Das Nicht-Fertige, sinniert Yuri Englert, sei doch eine Metapher für das Menschsein überhaupt, und der Offenbachplatz in seiner beharrlichen Unlösbarkeit „quasi die Marina Abramović unter den Baustellen“. Jetzt stünden die ersten Wartungen der Drehbühne, der Podien, der Untermaschinerie bevor, obwohl die natürlich sämtlich noch nie im Gebrauch waren.
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Das Publikum, man merkt es an den Reaktionen, giert nach solchen saftigen Insider-Infos. Am lautesten fällt das ungläubige Lachen aus, als im Einspielfilm zuerst der wüste Zustand des Foyers, der Aufgänge, des Erfrischungsraums dokumentiert wird. Es kippt ins Sarkastische, als die Kamera den kaum vorhandenen Stauraum für die Kulissen zeigt. Belüftungsschächte nehmen hier den größten Platz ein, der Zweckbau aus den frühen 1960er Jahren kann den technischen Anforderungen der Gegenwart schlicht nicht Stand halten. Ein VW-Käfer, heißt es in der Gala, könne eben keinen S-Klasse-Motor in sich beherbergen.
Eine Revue ist keine Faktensammlung, so schlimm kann es gar nicht kommen, dass man nicht noch unterhalten werden will. Weshalb viel gesungen und gewitzelt wird an diesem Abend, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Nicht jeder Gag zündet, nicht jedes Stück erhellt die undurchsichtige Lage, vor allem im ersten Teil gäbe es noch einiges zu kürzen. Aber das Gute überwiegt: Die flotten Anmoderationen der jungen Neuzugänge Kelvin Kilonzo und David Rothe (die wie ein doppelter Gottschalk Samstagabendshow-Charme versprühen), die getanzte Sitzung der genervten Bau-Gewerke oder die fiebrigen Experten-Monologe von Thomas Müller (als Sitzungsleiter mit dem Spitznamen „Salami-Klaus“) und Andreas Grötzinger (zum Begriff der „Staubfreiheit“).
Herrlich auch die kleine Romanze zwischen der Frau vom Trockenbau und dem Mann von der Elektroinstallation: Die Baustelle als Lebensentwurf, ein Biotop für Seifenopern. Die Trophäe für die waghalsigste, durchgeknallteste, beste Nummer des Abends aber gebührt Henri Mertens, ebenfalls neu im Ensemble. Er kombiniert im beinfreien Discofummel Mozarts Königin-der-Nacht-Arie („Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“) mit Miley Cyrus‘ „Wrecking Ball“. Wer hätte in Köln nicht in schwachen Momenten von der großen Abrissbirne fantasiert?
Die wahre Gemengelage ist verfahrener und verzweifelter. Das wissen auch Müller und Sanchez und lassen, für ein Dramolett innerhalb der Gala, Anja Laïs in die Rolle der Oberbürgermeisterin schlüpfen, die sie bereits beim Abschiedsabend von Stefan Bachmann so bravourös gespielt hatte. In „GRMPF“ steigert sie den kurzen Sketch zur großen Tragödie. Laïs' Henriette Reker, zerrissen zwischen den Ratsfraktionen, zwischen scheiterndem Pragmatismus und verdorbenem Vermächtnis, reiht sich nahtlos in ihre Maria Stuarts und Lady Macbeths ein, geopfert auf der Bühne eines künftigen Lost Place.
Bleibt die Frage nach dem Trost. Dass die Sehnsucht nach der Eröffnung wichtiger sei als die Eröffnung selbst, wie es das philosophische Dreigestirn formuliert, wird die Gemüter kaum beruhigen. Sanchez flüchtet sich ein letztes Mal in Musik: „Das große Ziel war viel zu weit, für unsre Träume zu wenig Zeit“, singt das ganze Ensemble mit der Münchener Freiheit. Selten klang Scheitern so harmonisch.
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Ursula Leuenberger, Musikalische Leitung: Cornelius Borgolte, Licht: Jan Steinfatt, Video: Poutiaire Lionel Somé, Choreografie: Kelvin Kilonzo, Dramaturgie: Jan Stephan Schmieding
Mit: Zainab Alsawah, Yuri Englert, Andreas Grötzinger, Kelvin Kilonzo, Anja Laïs, Henri Mertens, Thomas Müller, Kei Muramoto, Jens Rachut, David Rothe
Termine: 15., 21., 22., 29.9.; 3., 12., 31.10., Depot 1, 150 Minuten, eine Pause