TV-Kritik „Anne Will“Kontroverse Flüchtlingsdebatte mit Niveauabsturz bei Anne Will

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Anne Will

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Eine Dreiviertelstunde haben die Diskutanten der Anne-Will-Sendung bewiesen: Trotz der angespannten Lage lässt sich über das Thema Flüchtlinge in Deutschland kontrovers und doch unaufgeregt streiten, lassen sich Probleme benennen und gleichzeitig Klischees vermeiden. Keiner leugnete die Schwierigkeiten, die eine Million Flüchtlinge für das Land, vor allem für die Kommunen, bedeuten, und ebenso leugnete keiner der Tatsache, dass sich dieses Land kontinuierlich durch Einwanderung verändert. Ja, es war Konsens, dass man die Versäumnisse der Vergangenheit nicht wiederholen dürfe, als viele Deutsche, zumal Politiker, dies nicht einräumen wollten und daher eine vernünftige und notwendige Integrationspolitik versäumten.

Doch dann hielt die Irrationalität Einzug in die Debatte. Und die hatte einen Namen: Rita Knobel-Ulrich. Die TV-Dokumentarfilmerin schaffte es in Sekunden die Niveau der Debatte abstürzen zu lassen, denn sie schloss stets von Einzelbeispielen auf das Gesamte, denn ihr war kein Klischee zu abgedroschen, um es nicht noch mal mit Emphase vorzutragen. Kurz: Im Grunde ist die Integration von Einwanderern eh gescheitert, Frauen werden nicht respektiert, die Meinungsfreiheit ist bedroht, weil etwa eine Lehrerin oder eine Beamtin ihre Meinung nicht frei äußert aus Angst vor, ja, was eigentlich, den muslimischen Schülern, einem einwanderungsfreundlichen Umfeld.

Bedrohung überall

Egal. Frau Knobel-Ulrich sieht überall Bedrohungen – und war also tatsächlich eine gute Vertreterin der Ängstlichen im Land. Schließlich bestimmen sie die Debatte in Deutschland und nicht die rational denkenden und agierenden Menschen. Nicht der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der scharf die Bundesregierung kritisierte, weil die es unterlässt, den Kommunen im ausreichenden Maße zu helfen.

Hier sieht er zu Recht das Potenzial für soziale Konflikte, die der Integration der Flüchtlinge auch auf längere Sicht schaden. Nicht die Familienministerin Manuela Schwesig, die vor allem mehr für weibliche Flüchtlinge tun will und die europäische Dimension des Problems ausbuchstabierte.

Ein wenig geistreicher Historiker

Nicht die Publizistin Kübra Gümüşay, die als Nachfahrerin von Einwanderern betonte, wie gut und wichtig es sei, dass nun Menschen wie sie bei der neuen Integrationsdebatte dabei seien. Sie stellte auch die entscheidende, letztlich hier unbeantwortete Frage: Wer sind wir eigentlich? Was ist Deutschsein heute? Eine Frage, die Knobel-Ulrich nicht einmal im entferntesten in den Sinn kam.

Seltsam isoliert wirkte in dieser Sendung vor allem der Historiker Jörg Baberowski, der ein gutes Beispiel dafür ablieferte, dass auch Professoren nicht unbedingt geistreich oder gar intellektuell argumentieren. Er war offenkundig von der Idée fixe beherrscht, dass Flüchtlinge meist perspektivlos sind, weil sie ja nichts können, und erfolglose Menschen keine Lust haben, Teil der Gesellschaft zu werden. Ihm fiel bei seinen Ausführungen gar nicht auf, dass seine Beschreibung eigentlich viel besser auf die rechten und fremdenfeindlichen Anhänger von NPD und AfD zutrifft. Deren Integration in die deutsche Gesellschaft ist wahrscheinlich weit schwieriger als die der Flüchtlinge, die bereit sind, für dieses Ziel viel zu opfern.

Selbstkritische Betrachtung

Beruhigend an der Diskussion war, dass vor allem Gümüşay, Palmer und Schwesig das Thema Flüchtlinge in all seinen Dimensionen kritisch und sogar selbstkritisch ausgeleuchtet haben. Gümüşay, in dem sie vor Augen führte, dass in der Flüchtlingsdebatte die Deutschen mit Migrationshintergrund einen unverzichtbaren Beitrag leisten können. Palmer, indem er die praktischen Probleme benannte und klar machte, dass die Integration viel Geld kosten wird.

Und schließlich Schwesig, weil sie zeigte, dass auch die Sozialdemokratie endlich erkannt hat, dass sie eine große soziale Herausforderung bewältigen muss, bei der es nicht nur um die Flüchtlinge geht, sondern auch um die Menschen im Land, denen es jetzt schon nicht gut geht.

Es war mithin eine anregende letzte Sendung von Anne Will am Mittwochabend, die einen hoffen lässt, dass Will künftig auch am Sonntagabend als Nachfolgerin von Günter Jauch differenzierte und dennoch muntere Debatten moderieren wird. Und das zum Glück etwas früher am Abend.

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