Mein Freund, der BaumWarum der Wald in Corona-Zeiten zum Sehnsuchtsort wird

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Der Wald – ein idyllischer Rückzugsort

„Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern“ – So beginnt eines der berühmtesten Märchen der Brüder Grimm, „Hänsel und Gretel“. Die Geschichte ist bekannt, Vater und Stiefmutter setzen die beiden Kinder im Wald aus.

„Sie gingen die Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus, und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der Erde standen“, heißt es über ihre verzweifelte Suche nach einem Ausweg. Neben dem unglücklichen Geschwisterpaar und der Hexe, auf die sie treffen, spielt der Wald in dieser Geschichte eine Hauptrolle. Überhaupt wären ohne ihn viele Märchen und Sagen undenkbar.

Sehnsucht nach Ursprünglichkeit

Hatte der Wald für frühere Generationen immer auch etwas Bedrohliches, ist er in unseren Tagen zu einem Sehnsuchtsort geworden. Zwischen Bäumen und Sträuchern, umgeben von Vögeln und anderen Tieren scheint er der perfekte Ort, um zur Ruhe zu kommen, sich mit der Natur zu verbinden. Nicht erst die Bestseller des Försters Peter Wohlleben verdeutlichen, wie groß diese Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Natur, nach Ursprünglichkeit ist. Auch wenn wir dabei meist außer Acht lassen, dass der Wald, wie wir ihn kennen, zu großen Teilen von Menschen geschaffen wurde.

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Ob Schwarzwald, Königsforst oder Eifel – der Gang in die Natur erscheint wie ein Wellnesstrip, die Deutschen sind nicht zufällig ein Volk der Wanderer. Und gerade in diesen Tagen, in denen uns Corona ins Haus zwingt, in denen Kontakte zu Freunden, Kollegen und Bekannten vermieden werden müssen, in denen wir nicht ins Theater, Kino oder Restaurant gehen können, in denen alle kulturellen Errungenschaften der Moderne uns fehlen, wirkt der Wald wie ein aus der Zeit gefallener Zufluchtsort.

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Dort scheinen alle Meldungen über Infizierte und Tote, über Existenzängste und die Folgen der Isolation weit weg. Im Wald kann uns Corona nichts anhaben. In der Krise wird er zum perfekten Rückzugsraum. Zudem ist die Einsamkeit, die wir im Wald spüren, eine selbstgewählte. Wer nur das Rauschen der Blätter und das Zwitschern der Vögel hört, leidet nicht unter der Isolation. Der Schriftsteller Ludwig Tieck prägt erstmals in seinem Kunstmärchen „Der blonde Eckbert“ (1797) den Begriff der Waldeinsamkeit („Waldeinsamkeit / Die mich erfreut / So morgen wie heut / In ewger Zeit, / O wie mich freut / Waldeinsamkeit“). Er wurde zu einem Schlagwort der Romantik. Die Natur wird beseelt, der Mensch kann nur in enger Bindung an sie glücklich werden.

Es ist auch kein Zufall, dass Jacob und Wilhelm Grimm ihre Märchen im 19. Jahrhundert zusammentrugen. In dieser Epoche wurde der Wald mit so viel nationaler Bedeutung aufgeladen wie selten. Nicht nur bei Joseph von Eichendorff rauschten allenthalben die Wälder. Diese Waldbegeisterung fiel in eine Zeit, in der die beginnende Industrialisierung auch den Wald nicht verschont ließ.

Wilde

Wobei der „deutsche Wald“ als identitätsstiftendes Symbol seine Wurzeln in viel früheren Zeiten hat. Schon der römische Historiker Tacitus berichtete, obwohl er selbst nie vor Ort war, über die Wildheit der Wälder Germaniens. Der Mythos der Varus- oder Hermannsschlacht im Teutoburger Wald (9 nach Christus) und Siegfrieds Ermordung durch seinen Widersacher Hagen bei einem Jagdausflug in den Wäldern im mittelalterlichen „Nibelungenlied“ (13. Jahrhundert) prägten die enge emotionale Beziehung der Deutschen zum Wald und wurden auch in späteren Jahrhunderten häufig genutzt, um ein Nationalbewusstsein heraufzubeschwören.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Mythos vom deutschen Wald bis zur Perversion übersteigert, etwa im Film „Ewiger Wald“ aus dem Jahr 1936, der die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis propagierte. Noch 1960 bewertete Elias Canetti in „Masse und Macht“ die Beziehung der Deutschen zum Wald unter diesem Gesichtspunkt kritisch: „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland.“ In den 50er Jahren dann, als sich alle nach Vergessen und festen Strukturen sehnten, wurde der Wald in Filmen wie „Das Schwarzwaldmädel“ (1950) oder „Der Förster vom Silberwald“ (1954) wieder zum tröstenden Rettungsanker, zum Stück heile Welt abseits der vernarbten Städte. In den Jahren danach setzte eine kritischere Auseinandersetzung mit dem Thema ein. So arbeitete sich etwa Joseph Beuys mit seiner documenta-Aktion „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ (1982) am deutschen Wald ab. Und ebenfalls in den 80ern bestimmte die Angst vor dem Waldsterben die öffentliche Diskussion, das Alexandra schon 1968 in ihrem erfolgreichen Schlager „Mein Freund der Baum“ erahnt zu haben schien. In Zeiten der Corona-Pandemie sind uns diese Überlegungen ziemlich egal. Da wird der Wald jenseits aller Ideologie zum Ort, an den wir uns träumen – und für einen Moment vergessen dürfen, dass die Welt aus den Fugen geraten ist.

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