Neue DVDsWarum Stummfilme weder lautlos noch Schwarz-Weiß sind

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John Barrymore nach seiner Verwandlung in Mr. Hyde

  • Als der Medienmogul Ted Turner in den 1980er Jahren Schwarz-Weiß-Filme einfärben ließ, war der Aufschrei groß.
  • Nachdem Peter Jackson mit nachcolorierten Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg großen Erfolg hatte, wird die Lage neubewertet.
  • Behutsam colorierte Stummfilme wie „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ zeigen, das ein neuer Anstrich auch neue Fans bringen kann.

Köln – 100 Jahre – an dieses Jubiläum wird man sich gewöhnen müssen. Denn unweigerlich werden nun auch die Großtaten aus dem abschließenden Jahrzehnt der Stummfilmära ein dreistelliges Alter erreichen. Jüngstes Beispiel ist „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, nicht die erste Adaption der Erzählung von Robert Lewis Stevenson, wohl aber die erste in abendfüllender Länge und zugleich der Film, der seinen Hauptdarsteller John Barrymore zum Leinwandstar erhob.

In seiner jüngsten Veröffentlichung auf DVD ist es nun auch ein Farbfilm. Reaktionen auf eine solche Meldung variieren zwischen Schulterzucken und einem Aufschrei der Empörung, neuerdings gehört auch neugieriges Interesse dazu. Was nicht von ungefähr der Meinung von Christian Aberle entspricht.

Er bringt den Film mit seiner Verleihfirma Aberlemedia in der kolorierten Fassung als Doppel-DVD heraus. Damit erscheint „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ in Deutschland erstmalig in einer seriösen Veröffentlichung mit neu abgetastetem Bild fürs Original in Schwarz-Weiß und eben einer Alternativversion in Farbe. Aberle ist überzeugt, dass Farbe das entscheidende Kriterium ist, um heutige Filmzuschauer für alte Filme zu begeistern: „Bei einem Schwarz-Weiß-Film steigen die Leute, und nicht nur die Jugendlichen, schon nach wenigen Szenen wieder aus.“

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Orgeln und Orchester

Es ist daher angebracht, zwei weitläufigen Meinungen zum Stummfilm zu begegnen. Einmal waren Stummfilme nicht lautlos. Es gab neben der Live-Musik auf kleinen Orgeln in den Kinotheatern Kompositionen für Orchester für die Prestigeaufführungen, und ab 1926 waren auch schon Tonspuren für Geräusche und nachträglich eingesprochene Dialoge im Einsatz.

Zum anderen waren Stummfilme nicht nur von Schwarz-Weiß-Ästhetik geprägt. Ein schönes Beispiel dafür liefert „Die verlorene Welt“ von 1925. Aberlemedia bringt diese erste Adaption des Abenteuerromans von Arthur Conan Doyle ebenfalls als kolorierte Fassung heraus. Die aktuell gültigen Restaurierungen weisen „Die verlorene Welt“ als Film mit hochdifferenzierter Viragierung aus. Bei diesem Verfahren werden Szenen gemäß ihrer dramatischen Stimmung mit einem Farbwert akzentuiert. Tagesaufnahmen sind von gelben Tönen geprägt, Nachtaufnahmen von Blau, Sepiatöne bestimmen die Innenräume. Spannung erglüht rot, der Dschungel schillert grün. Je nach Bedarf wurden in die monochromen Arrangements noch zusätzliche Farbtupfer, dann aber von Hand, eingearbeitet.

Saurier im Fackellicht

Ein schönes Beispiel dafür findet sich in „Die verlorene Welt“, wenn während eines nächtlichen Angriffs ein Saurier nach einer Fackel schnappt, die in feurigem Gelbrot das dunkelblaue Szenario erhellt.

Sorgfältige Restaurierungsarbeit hat in den letzten 20 Jahren manche verloren geglaubte Perle neu erstrahlen lassen. Das gilt besonders für jene Filme, die ganze Szenen mehrfarbig präsentierten (etwa die Bibelszenen in „Ben Hur“ 1925) oder gleich ganz als Farbfilm („The Toll of the Sea“ 1922, „Der schwarze Pirat“ 1926) angelegt waren. Wird jedoch ein kompletter Film nachträglich in Farbe getränkt, kann das katastrophale Resultate zeitigen. Wirtschaftliches Kalkül überwog filmhistorischen Respekt, als der Fernsehunternehmer Ted Turner Mitte der 1980er Jahre die Rechte an US-Filmklassikern aufkaufte und diese grobschlächtig überpinseln ließ. Regisseure wie Steven Spielberg, Martin Scorsese, John Huston und Orson Welles liefen Sturm, als Laurel und Hardy auf diese Weise Gesichter in Schweinchenrosa verpasst bekamen, „Casablanca“ oder „Citizen Kane“ in bizarren Farbspielen ins Auge sprangen. Und auch das Publikum spielte nicht mit.

Peter Jacksons Erfolg

Eine Neubewertung der Lage warf Ende 2018 Peter Jacksons „They Shall Not Grow Old“ auf. Diese quasidokumentarische Nacherzählung des Ersten Weltkriegs kolorierte nicht nur authentische Filmaufnahmen im Stil zeitgenössischer Farbfotografien, es gelang sogar mittels Lippenlesern gesprochene Worte zu identifizieren und damit Dialoge nachzustellen. Der weltweite Erfolg spiegelt die Sorgfalt in Bild- und Tonbearbeitung.

Dennoch gehört die Frage nach Erfolg und Sinnhaftigkeit der Colorierung mit jedem neuen Eingriff in ein bestehendes Werk gestellt. Schwarz-Weiß ist eine Ausdrucksform, die eigenen ästhetischen Kriterien folgt. Die Übertragung hoch differenzierter Schwarz-, Weiß- und Grauwerte in Farbwerte unterliegt mit jeder Neubearbeitung der Fertigkeit des zuständigen Technikers, der Höhe des Budgets und der Feinjustierung der eingestzten Algorithmen beim Umrechnen von Grauschattierungen in Farbwerte.

Im Falle von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ ist der gute Wille spürbar, nicht zu extensiv im Farbtopf zu panschen. Und wenn es zur ersten Verwandlung kommt - das filmische Kernstück einer jeden Adaption des Stoffes – und aus John Barrymores schmucken Henry Jekyll ein abstoßend hässlicher Edward Hyde geworden ist, der sich mit Spinnenfingern, gierigem Blick und gefletschten Zähnen der Kamera und damit uns Zuschauern drohend zuwendet, dann ist das ein Bild, das immer noch die Nackenhaare sich aufstellen lässt.

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