Vor 80 Jahren warfen die USA erstmals eine Atombombe auf eine bewohnte Stadt ab. Beinahe hätte Deutschland auch eine Bombe gehabt.
80 Jahre HiroshimaDarum hat Hitler den Wettlauf um die Atombombe verloren

Vor 80 Jahren: Über Hiroshima explodiert „Little Boy“, eine drei Meter hohe Bombe, die auf Basis der Spaltung von Plutonium-Atomen eine diabolisch, für tausende Menschen tödliche Energie freisetzt. (Archivfoto)
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Anfang August 1939, in Europa ziehen bereits die Gewitterwolken des bevorstehenden Krieges auf, bekommt der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt Post. Verfasser des Briefes, datiert auf den 2. August 1939, war der seit 1933 im amerikanischen Universitätsstädtchen Princeton lebende deutsche Physiker Albert Einstein, damals 60.
Der ins Exil vertriebene Nobelpreisträger warnte den Präsidenten eindringlich vor einer neuartigen, auf der Spaltung von Atomkernen basierenden Bombe, an der in Deutschland „aller Wahrscheinlichkeit nach“ gearbeitet werde.

Der Physiker Albert Einstein. (Archivfoto)
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„Eine einzige Bombe dieser Art, auf einem Schiff befördert oder in einem Hafen explodiert, könnte sehr wohl den ganzen Hafen zusammen mit Teilen des umliegenden Gebietes zerstören. Möglicherweise werden sich solche Bomben als zu schwer für den Transport auf dem Luftweg erweisen“, heißt es in dem Brief. Doch auch Genies irren mitunter, wie man spätestens seit dem 6. August 1945 weiß, zumindest im letzten Punkt.
Am 1. September marschierte Nazi-Deutschland in Polen ein, überzog Europa mit Krieg, nachdem man sich mit Sowjetdiktator Stalin über eine Aufteilung Osteuropas und einen gegenseitigen Nichtangriffspakt verständigt hatte. Die US-Regierung hatte also vorerst andere Dinge zu tun, als auf warnende Briefe von Wissenschaftlern zu antworten.
Roosevelts Antwort im Oktober 1939
Zumindest bis zum 19. Oktober 1939, da erreichte Einstein das Antwortschreiben Roosevelts. Ein Ausschuss bestehend aus Zivil- und Militärvertretern werde gebildet, hieß es da, der sich mit den Möglichkeiten der Spaltung von Uran-Kernen beschäftigt. Ein Anfang.
Wie war es dazu gekommen? Heute weiß man, viele Warnungen, die den Kriegsverlauf hätten verändern können, verhallten ungehört: So gab es Informationen zu dem geplanten Überfall Japans auf Pearl Harbor, Moskau wurde über Hitlers Angriffsabsicht und -datum informiert, die Existenz von Hitlers Mordfabriken war den Alliierten bekannt. Warum nahmen die Vereinigten Staaten die für Laien schwer nachvollziehbaren Warnungen eines Physikers den Bau futuristischer Superbomben betreffend ernst?
„Einerseits fiel Einsteins Brief, den er übrigens zusammen mit dem ungarischen Physiker und Leó Szilárd verfasst hatte, genau in die Zeit kurz vor Deutschlands Überfall auf Polen, was bei Roosevelt den Eindruck verstärken musste, die Deutschen haben Welteroberungspläne…“, so der Historiker Takuma Melber von der Universität Heidelberg zum Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Spitzenforscher wirkten im Deutschen Reich
Rückblick: Als Wissenschaftsstandort galt das Deutsche Reich der Zwischenkriegsjahre international als „Goldstandard“. Zahlreiche Nobelpreise in Physik und Chemie gingen an deutsche Wissenschaftler. Die seit 1933 herrschenden Nazis vertrieben zwar zahlreiche jüdische Forschende wie eben Albert Einstein oder Lise Meitner ins Exil, profitierten aber noch vom Weltklasseniveau der verbliebenen Wissenschaftler.
Im Dezember 1938 experimentierten die Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin mit Uran-235-Isotopen, die sie mit Neutronen beschossen. Dabei entstanden Spaltprodukte wie Barium, ein anderes chemisches Element also. Auf diesem Wege frei werdende Neutronen spalteten weitere Uran-Isotope, eine Kettenreaktion wurde ausgelöst, die große Mengen Energie freisetzte. Das war die Entdeckung der Kernspaltung.

1962: Der Deutsche Physiker Otto Hahn (Mitte), dessen Kollege Fritz Straßmann und der Physiker Heinz Haber, demonstrieren einen Apparat, mit dem sie 25 Jahre zuvor Urankerne gespalten haben.
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Hahn informierte über diese Fortschritte seine ehemalige Mitarbeiterin Lise Meitner, die kurz zuvor wegen ihrer jüdischen Abstammung Deutschland verlassen hatte. Meitner und ihr Neffe, der Kernphysiker Otto Frisch, deuteten die Hahn-Straßmann’schen Ergebnisse und schrieben im Februar 1939 in der britischen Fachzeitschrift Nature darüber.
„Schon damals tauschten sich Wissenschaftler auf internationaler Ebene in Form von Beiträgen in wissenschaftlichen Journalen miteinander aus“, so Melber. Ein historisches Missverständnis sorgte zusätzlich dafür, dass man nach Einsteins und Szilárds Brief in Amerika Handlungsbedarf sah: „Nach der Entdeckung der Kernspaltung fiel Leó Szilárd irgendwann auf, dass Hahn keine wissenschaftlichen Fortschritte mehr publizierte. Was nur einen Schluss zuließ: ,Die Deutschen machen da irgend was Geheimes…‘“, beschreibt Melber es in seinem Buch „Pearl Harbor: Japans Angriff und der Kriegseintritt der USA“ (Beck 2016).
Deutsche Kriegsführung sah keine dringende Notwendigkeit
Tatsache war, dass es auf deutscher Seite gar nicht viel zu berichten gab, „weil die NS-Führung das Projekt wesentlich weniger konsequent vorantrieb, als die Regierung Roosevelt – was wesentlich mit dem Kriegsverlauf zu tun hatte“, so der Heidelberger Historiker.
„Der Krieg stellte sich für die deutsche Seite zumindest in seiner ersten Hälfte als große Erfolgsgeschichte dar, so dass sich gar nicht die Notwendigkeit ergab, jenseits von konventionellen Waffen die Forschung zu forcieren“, erklärt der Melber. Zwar wurde am Bau einer deutschen Bombe geforscht, „doch als eines neben vielen anderen Projekten wie dem Raketenprogramm in Peenemünde zum Beispiel oder der Entwicklung von Düsenjägern.“
Dass Berlin die Forschung nicht intensivierte, „hatte auch damit zu tun, dass greifbare Ergebnisse weitgehend ausblieben und Wissenschaftler wie Werner Heisenberg, der Leiter des Uranprojekts, von falschen Vorstellungen ausgingen“, so der Historiker. So wie Einstein in seinem Brief schrieb, eine „solche Bomben sei zu schwer für den Transport auf dem Luftweg“, so wird Heisenberg nachgesagt der NS-Führung eine „Waffe von der Größe einer Ananas, mit der sich eine ganze Stadt auslöschen lässt“ versprochen zu haben, so Melber. Beide sollten irren, denn ,Fat Man‘, die Bombe, die vor 80 Jahren über Nagasaki abgeworfen wurde, war drei Meter hoch, wog über 4,5 Tonnen!
„Manhattan-Projekt“ nahm ab 1942 Tempo auf
Nachdem Roosevelt noch 1939 zumindest organisatorisch den Grundstein gelegt hatte, geschah zunächst drei Jahre lang nicht viel. „An Geschwindigkeit nahm das ,Manhattan-Projekt‘ erst 1942 auf – und das muss im Zusammenhang mit dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor und dem direkten Kriegseintritt der USA gesehen werden“, erläutert Melber.
Unter der militärischen Leitung von General Leslie R. Groves und der wissenschaftlichen Leitung von J. Robert Oppenheimer, Sohn eines deutsch-jüdischen Immigranten, arbeiteten die von verschiedenen US-Universitäten entsandten, besten Atomphysiker des Landes unter strengster Geheimhaltung in Los Alamos, Bundesstaat New Mexico, an der Entwicklung einer Bombe - einerseits auf Basis der Spaltung von Uran-235, andererseits von Plutonium-239.
Ein Projekt der Superlative: Mehr als 150.000 Wissenschaftler, Techniker, Handwerker waren beteiligt. Die Kosten beliefen sich bis zur Fertigstellung auf fast 2 Milliarden Dollar, was einem heutigen Gegenwert von fast 36 Milliarden Dollar oder 31 Milliarden Euro entsprechen würde.
Spätestens mit der ersten Versuchszündung der Atombombe, „Trinity“(Dreifaltigkeit)-Test genannt und am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico durchgeführt, stand fest, das Manhattan-Projekt war eine Erfolgsgeschichte - falls man im Zusammenhang mit der Erschaffung eines solchen Monsters überhaupt von „Erfolg“ sprechen kann. Zu diesem Zeitpunkt war das Deutsche Reich bereits geschlagen. Otto Hahn, der verhinderte „Vater“ der deutschen Bombe, war zusammen mit anderen Wissenschaftlern im britischen Cambridge interniert.
Die Gründe für den amerikanischen Sieg im Rennen um die Atombombe
Laut Melber waren es vor allem vier Gründe, warum die Amerikaner am Ende das Rennen um die Bombe gewannen: Sie hatten
- 1.) Die Mittel, dieses teure Projekt langfristig zu realisieren
- 2.) Eine äußerst erfolgreiche Strategie der Geheimhaltung an abgeschiedenen Orten
- 3.) Sie schöpften das Potenzial an einheimischen und ausländischen Wissenschaftlern auch über ideologische Gräben hinweg aus
- 4.) Die politische Führung des Landes hatte das militärische Potenzial, das sich durch diese Technik bot, früh erkannt – was zu guter Letzt auch dem Brief von Albert Einstein und Leó Szilárd zu verdanken war, der einen nachhaltigen Eindruck bei Roosevelt hinterließ.
Der sollte am Ende den Befehl zum Einsatz der Bombe nicht geben, weil er bereits am 12. April 1945 auf Grund einer Hirnblutung verstarb. Sein Nachfolger Harry S. Truman wurde somit zum ersten und bislang einzigen Staatenlenker, der den Befehl zum Einsatz atomarer Waffen gegen Menschen erteilte. Doch warum entschied sich der Führer der freien Welt dafür?
„Es hatte vor allem mit dem Kriegsverlauf im Pazifik zu tun“, erklärt der Historiker Melber. „Ganz entscheidend für den Zeitpunkt des Abwurfs war aus meiner Sicht die Schlacht um die japanischen Okinawa-Inseln und der zuvor erfolgten Landung der Amerikaner auf der Palau-Insel Peleliu“, so der Heidelberger Wissenschaftler. Allein in der Schlacht um Okinawa verloren 12.500 Amerikaner ihr Leben, womit sie als eine der blutigsten Schlachten des Pazifikkriegs gilt.
Krieg sollte verkürzt werden
Basierend auf diesen Erfahrungen hätten amerikanischen Militärplaner laut Melber Szenarien ausgearbeitet, die von enorm hohen Verlusten im Falle der Landung auf der japanischen Hauptinsel Honshu ausgingen, um Tokyo zur Kapitulation zu zwingen. „Man hatte es zudem mit einer kriegsmüden US-Öffentlichkeit zu tun, zumal der Krieg in Europa ja bereits gewonnen war und viele sich fragten, warum sterben unsere Männer auf irgendwelchen Pazifikinseln?“, so der Historiker.
Hauptsächlich ging es um die Verkürzung des Krieges. Zudem hatte Sowjetführer Stalin auf der Konferenz von Jalta (Februar 1945) die Zusage gegeben, sich am Krieg gegen Japan zu beteiligen. „Für die US-Regierung tickte gewissermaßen die Uhr, galt es doch, auch gegenüber Stalin ein klares Zeichen zu setzen“, so der Autor. Nach der sowjetischen Expansion in Richtung Mitteleuropa drohte sie auch in Fernost.
Dabei wusste der Sowjetdiktator längst bescheid. Zwar war es den Amerikanern gelungen, Los Alamos vor Nazi-Spionen und selbst vor neugierigen Landsleuten geheim zu halten. Doch mindestens vier Spione im „Manhattan-Team” hatten eifrig den Kreml informiert: Neben dem deutschen Physiker Klaus Fuchs auch die US-Physiker David Greenglass, Theodore Hall und der Ingenieur Oscar Seborer.

Karte und Info zu Hiroshima: Zerstörungen und Opferzahlen des Atombombenabwurfs.
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Der Rest ist Geschichte: Am 6. August 1945, 8.15 Uhr Ortszeit, gab Paul Tibbets, Kommandeur einer Boeing B-29 Superfortress mit Namen „Enola Gay“ in 9450 Metern Höhe den Befehl, die auf Spaltung von Uran-235 basierende Bombe „Little Boy“ über der japanischen Stadt Hiroshima auszuklinken. 43 Sekunden später brach ein Inferno aus. Mindestens 90.000 Menschen starben sofort. Am 9. August, drei Tage später, explodierte eine auf Spaltung von Plutonium-239 basierende Bombe in Nagasaki. .dark-embed { display: none; } @media (prefers-color-scheme: dark) { .light-embed { display: none; } .dark-embed { display: block; } }
Höllentor eines neuen Zeitalters ausgestoßen
Das Höllentor eines neuen Zeitalters ward ausgestoßen. Stalin besaß dank seiner Zuträger vier Jahre später eine eigene Bombe. Ein atomares Wettrüsten begann, das mit der ersten nordkoreanischen Bombe 2006 und den iranischen Bestrebungen bis heute seinen Schrecken behalten hat.
Otto Hahn, der sich als Entdecker der Kernspaltung persönlich mitverantwortlich fühlte, nahm die Nachricht vom Atombombenabwurf in britischer Internierung „wie vernichtet“ auf und musste „mithilfe einer nicht unbeträchtlichen Menge Alkohol“ beruhigt werden, protokollierte der britische Geheimdienstoffizier T. H. Rittner. „Wir sollten uns jetzt nicht in Rechtfertigungen ergehen, weil es uns nicht gelungen ist, vielmehr müssen wir zugeben, dass wir gar nicht wollten, dass die Sache gelingt“, verklärte der mit Hahn internierte Physiker Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker die eigene Niederlage.
„Jetzt bin ich der Tod, der Zerstörer der Welten“, zitierte Robert Oppenheimer reuevoll eine Zeile aus der hinduistischen Bhagavad Gita.
Albert Einstein, der mit seiner Formel E=mc² über die Äquivalenz von Masse und Energie das Fundament für die Kernspaltung gelegt hatte, nannte kurz vor seinem Tod am 18. April 1955 seinen Brief an Roosevelt den größten Fehler seines Lebens: „Wenn ich gewusst hätte, dass es den Deutschen nicht gelingen würde, die Atombombe zu konstruieren, hätte ich mich von allem ferngehalten.“ (rnd)