Angela Merkel? Früher war sie beliebter als Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Inzwischen ist sie bei vielen Deutschen untendurch. Zuwanderung, Energie und Russland sind die Stichworte. Jetzt zeigt Merkels Autobiografie, wie kompliziert alles ist. Mit ihren Einschätzungen zu kontroversen Themen war sie in Wirklichkeit nie allein.
Merkels Buch „Freiheit“Wie „Angie“ ihre Welt sah und gestaltete
Das Buch von Angela Merkel „Freiheit. Erinnerungen 1954–2021″ (740 Seiten, 42 Euro, Kiepenheuer & Witsch) erscheint am 26. November in über 30 Ländern.
Angela Merkels Buch ist wie ihre Regierungszeit: lang und kurvenreich. Aber am Ende der mehr als 700 Seiten spürt man, wie am Ende ihrer Jahre im Kanzleramt, immerhin eins: Da hat sich jemand Mühe gegeben.
Die Buchautorin Merkel wollte, wie zuvor die Kanzlerin Merkel, ein bisschen anders sein als ihre Vorgänger: etwas redlicher, nahbarer, echter. Also verzichtete sie auf Ghostwriter und auf Beratung durch Journalisten und Historiker. Merkel arbeitete sich eigenhändig noch einmal durchs eigene Leben hindurch, nur mithilfe von Beate Baumann, ihrer langjährigen Büroleiterin, die als Co-Autorin firmiert.
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Ein „rustikales Kind“ aus der Uckermark
Stilistisch liefert dieses Duo keine Sternstunden. „Im Alter zwischen 14 und 18 Jahren“, liest man über Merkels Jugend in der DDR, „gehörte das Blaubeerpflücken in den Wäldern von Templin zu meiner Ferienbeschäftigung.“ Das Blaubeerpflücken? Die Ferienbeschäftigung? Das hätte man einfacher ausdrücken können, mit weniger Substantiven.
Im nächsten Moment aber werden Leserinnen und Leser schon entschädigt, durch allerlei Details und Drolligkeiten aus dem Leben der Pfarrerstochter. In der Uckermark, so erfährt man, war Merkel als „rustikales Kind“ bekannt, das auch schon mal Wasser aus dem Trinknapf der Hühner trank.
Voll Sympathie berichtet Merkel über geistig Behinderte, die im Waldhof arbeiteten, den von ihren Eltern betreuten kirchlichen Werkstätten bei Templin. Einer von ihnen half ihrer Mutter unermüdlich und hoch konzentriert beim Holz- und Kohlenholen für die vielen Kachelöfen in der Einrichtung. Unentwegt habe er vor sich hingesprochen und „als angeblicher Beschäftigter der Eisenbahn“ aus seiner Welt erzählt. „Ich schloss Freundschaft mit ihm“, schreibt Merkel.
Was haben die Jahre auf dem Waldhof bewirkt? Hat Merkel dort ihre stoische Nachsicht mit anderen entwickelt? Ihre Bereitschaft, sich auf Menschen einzulassen, die vieles völlig anders sehen?
Als Politikerin jedenfalls setzte Merkel später Maßstäbe für einen achtsamen Umgang: mit Deutschlands Nachbarn in Europa, aber auch, schöne Grüße an die Parteien der gerade zerbrochenen Ampel, mit ihren Koalitionspartnern in Berlin.
Angela Merkel: „Es geht nicht um Karrieren“
Manches, was unter Merkel ganz normal erschien, entpuppt sich im Nachhinein als großes Kino. Zum Antrittsbesuch als neue deutsche Kanzlerin in Paris und Brüssel nahm sie im November 2005 auch ihren Außenminister mit, den Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier. „Damit wollten wir zeigen“, schreibt Merkel, „dass wir trotz teilweise sehr unterschiedlicher Positionen in der Vergangenheit gewillt waren, in der großen Koalition eng zusammenzuarbeiten.“
Hat Olaf Scholz je Annalena Baerbock mit einem solchen Vorsatz ums Mitfliegen zu einem seiner Auslandstermine gebeten? Scholz hielt, als es mit seiner Koalition schon nach drei Jahren vorzeitig zu Ende ging, Wirtschaftsgipfel ohne seinen Wirtschaftsminister ab.
Merkels Art des ruhigen, integrierenden Regierens wäre heute vielleicht hilfreicher denn je. Ihr uneitler Stil war Programm. Im Jahr 2005 verkündete sie: „Es geht nicht um Karrieren, um er oder ich oder er oder sie. Es geht um etwas anderes. Wir wollen Deutschland dienen, ich will Deutschland dienen.“
Merkel half aus der Euro-Krise
Immer wieder musste Merkel Deutschland durch historische Krisen führen. Und immer wieder lag die Lösung, so sieht sie das, in seriösem Teamspiel. Bei Corona half nicht der starke Mann, sondern ein offenes Dauergespräch mit der Wissenschaft und den Ministerpräsidenten. In der Finanzkrise nahm ein Auftritt Merkels an der Seite Peer Steinbrücks in einem entscheidenden Moment deutschen Sparern die Angst.
Aus der Euro-Krise half ein Plan heraus, mit dem Jens Weidmann, damals Leiter der Abteilung IV im Kanzleramt (Wirtschafts- und Finanzpolitik), seine Chefin morgens im Hotel bei einem Frühstück überraschte. „Ich habe noch einmal nachgedacht“, sagte Weidmann und berichtete, wie er nächtens den Gesamtwert der Staatsanleihen von Griechenland, Portugal, Spanien und Italien zusammengerechnet habe. Weidmann kam auf eine Summe von 750 Milliarden Euro, die man mit einem Rettungsschirm absichern müsse. So geschah es. Deutschland war damals die maßgebliche Kraft in Europa.
Beim CDU-Parteitag läuft „Angie“ von den Rolling Stones
Führen heißt dienen – das hat Merkel früh erkannt, ähnlich wie der protestantische Pflichtmensch Helmut Schmidt. Die Lage war ernst, immer wieder.
In Merkels Buch findet sich kein Happy End. Dafür gibt es glückliche Anfänge, persönliche und politische. Als einen Glücksmoment, der nicht mehr übertroffen wurde, beschreibt Merkel den CDU-Bundesparteitag in Essen im April 2000, bei dem sie zum ersten Mal zur Bundesvorsitzenden gewählt wurde, mit 95,9 Prozent. Ungelenk stand sie damals auf der Bühne und schwenkte zwei Blumensträuße gleichzeitig auf und ab. Das sah aus, als wolle ein Albatros starten.
„Nie wieder, auch als Bundeskanzlerin nicht, erlebte ich einen Parteitag mit einem solchen Gefühl der Einigkeit zwischen der CDU und mir und mir und der CDU“, schreibt Merkel. Sie erwähnt auch, welches bekannte Musikstück die Techniktrupps über die Lautsprecher laufen ließen, als die Delegierten schon auf dem Heimweg waren und in der Halle Tische und Stühle abgebaut wurden: „Angie“ von den Rolling Stones. „Ein wunderbarer Moment“, notiert Merkel.
Das Buch der promovierten Physikerin ist und bleibt natürlich ein Sachbuch. Dem Publikum tiefere Einblicke in ihre Gefühlswelt zu geben, war ohnehin nie Merkels Ding. Leider zieht sie auch keine philosophischen Erkenntnisse, die sie im Laufe der 16 Jahre gewonnen haben muss, vor die Klammer.
Merkel überschätzt ihren Einfluss auf Putin
Sie behauptet wenig, beschreibt aber viel. Etwa die breite Unterstützung, die sie 2015 bekam für ihre Flüchtlingspolitik. Auch beim Ausstieg aus der Atomkraft war sie nicht isoliert, sogar Markus Söder zog mit. Im Minsk-Prozess stand die gesamte westliche Staatenwelt hinter ihren unermüdlichen Versuchen, Wladimir Putins bösartigen Nationalismus einzudämmen.
Einen eigenwilligen Nachklang hat Merkels Hinweis, die Corona-Krise und der daraus entstandene Abbruch direkter Kontakte zu Putin hätten einen unheilvollen Einfluss gehabt auf den weiteren Verlauf der Dinge.
Offenbar hoffte die Kanzlerin, beim Thema Ukraine werde schon alles gut gehen, wenn nur alle mit allen weiterhin redeten, insbesondere sie mit dem russischen Präsidenten, zu dem sie ja ein besonderes Verhältnis hatte. Jeder Besserwisser weiß heute: In diesem Punkt hat die Kanzlerin sich selbst etwas überschätzt. Aber offenbar gehörte diese leichte Überdosis Zuversicht zu der Art und Weise, wie „Angie“ damals die Welt sah.