Europäische UnionWie sich die Ukraine in die EU kämpft

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Weihnachtsbaum in einer Lagerhalle des Hilfsvereins Blau-gelbes Kreuz in Köln.

Weihnachtsbaum in einer Lagerhalle des Ukraine-Hilfsvereins Blau-Gelbes Kreuz in Köln.

Während Russland seine brutalen Angriffe auf die Ukraine verstärkt, arbeitet das Land mit Hochdruck auf einen EU-Beitritt hin. So geht es dabei voran.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban macht keinen Hehl daraus, dass er die Ukraine nicht in der Europäischen Union möchte. Angesichts der Lage in dem kriegszerstörten Land sei eine EU-Mitgliedschaft „für viele, viele, viele Jahre nicht realistisch“.

Ob sich Orban in diesem Jahr umstimmen lässt? Zumindest zeigt er sich offen für ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Dessen Stabschef äußerte sich nach einem „produktiven Telefonat“ mit dem ungarischen Außenminister optimistisch. Das Treffen mit Orban werde „in naher Zukunft“ stattfinden, erklärte er. Es wäre das erste seit Kriegsbeginn.

Hauptthema der bilateralen Gespräche soll die EU-Integration der Ukraine sein. Seit die EU-Regierungschefs im Dezember die Aufnahme der Beitrittsgespräche besiegelt haben, laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren.

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Doch bevor die Verhandlungen offiziell beginnen, muss das Land sieben Reformauflagen erfüllen. Laut EU-Kommission habe die Ukraine aber bereits im November „mehr als 90 Prozent“ erreicht. Nur ein einziges Gesetz müsse die Ukraine noch verabschieden, heißt es in ukrainischen Medien. Es gehe nur noch um eine Regelung zu Lobbyismus, die dem ukrainischen Parlament bereits vorliegt. Die EU-Kommission will im März einen neuen Bericht über den Stand der Reformen veröffentlichen, rechtzeitig zum nächsten EU-Gipfel in Brüssel.

„Alle Reformen trotz Kriegs möglich“

Dann fängt die eigentliche Arbeit an. Ukrainische Gesetze müssen an das EU-Recht angepasst, die Verwaltung nach EU-Vorgaben aufgestellt und die Menschen im Land mit den EU-Regeln vertraut gemacht werden. So müssen sich beispielsweise ukrainische Landwirte über die EU-Vorschriften für den Einsatz von Spritzmitteln auf ihren Feldern informieren. 35 Kapitel umfasst die Checkliste für den EU-Beitritt, von denen die Ukraine einige Punkte bereits weitgehend erfüllt.

Die Reformen während der anhaltenden Angriffe Russlands voranzutreiben, ist eine enorme Herausforderung. „Tatsächlich sind alle Reformen trotz des Kriegs möglich“, so Pawlo Klimkin, der bis 2019 Außenminister der Ukraine war. „Die Frage ist nur, wie tiefgreifend die Reformen sind und wie lange sie während des Krieges dauern“, sagt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). In vielen Bereichen, etwa in der Landwirtschaft, habe die Ukraine bisher einen anderen Ansatz verfolgt und die Umstellung brauche Zeit.

92 Prozent der Ukraine für EU-Beitritt

„Was während des Krieges wirklich schwierig wird, ist zum Beispiel die Privatisierung von Staatsunternehmen“, erklärt er. Es gebe immer noch viele Staatskonzerne und für Privatisierungen während des Krieges sei eine Gesetzesänderung notwendig. Dies ist nur ein Beispiel, warum die Umsetzung der Reformen oft komplex ist.

Laut einer Umfrage befürworten 92 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer einen EU-Beitritt – so viele wie noch nie. Mehr als jeder Zweite erhofft sich durch die EU-Mitgliedschaft langfristige Sicherheit (59 Prozent) und eine florierende Wirtschaft (57 Prozent), viele verbinden mit dem EU-Beitritt auch einen stabilen Rechtsstaat (45 Prozent) und eine demokratische Ukraine (44 Prozent).

CDU-Politiker McAllister: Fortschritte bei Angleichung an EU-Recht

Die Ukraine hat ihre Reformen im vergangenen Jahr so schnell vorangetrieben wie kaum ein anderer EU-Beitrittskandidat. Nur Moldau hat die Reformen noch schneller umgesetzt. In Brüssel schätzt man diese Entwicklung. „Beispielsweise im Hinblick auf Reformen der öffentlichen Verwaltung, bei der Funktionsweise der Justiz oder bei der Korruptionsbekämpfung hat die Ukraine unter Beweis gestellt, dass sie auch in extrem schwierigen Kriegszeiten in der Lage ist, Fortschritte bei der Angleichung an das EU-Recht zu machen“, sagt CDU-Politiker David McAllister dem RND. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament will auf dieser Entwicklung aufbauen und die Zusammenarbeit mit der Ukraine wo immer möglich verstärken.

Wie der Beitrittsprozess der Ukraine konkret aussehen wird, ist noch völlig offen. Denn bisher gibt es kein Beispiel für den Ablauf, bei dem sich das Beitrittsland im Krieg befindet. Ob und wie ein Land im Krieg beitreten könnte, wird derzeit diskutiert.

Ex-Außenminister Klimkin fordert daher Brüssel auf, den EU-Erweiterungsprozess zu überarbeiten. „Wir wollen keine Rabatte, sondern einen praktischen Ansatz, um geopolitisch wichtige Länder wie die Ukraine und den Westbalkan in die EU zu integrieren“, sagt er. Von den Erfahrungen Polens, Rumäniens und anderer Staaten beim Beitritt könne man lernen. „Aber wir können die Beitrittsschritte der mitteleuropäischen Länder nicht einfach kopieren.“

EU-Erweiterungspolitik an geopolitische Realitäten anpassen

Um die Ukraine in den nächsten Jahren näher an die EU heranzuführen, will auch McAllister die Erweiterungspolitik „an die aktuellen geopolitischen Realitäten“ anpassen. Es soll spürbare Fortschritte im Beitrittsprozess geben. „Wir sollten einen Integrationsansatz verfolgen, der schrittweise über den Zugang zum Binnenmarkt und die Gewährung der vier Grundfreiheiten, die Teilnahme an bestimmten EU-Programmen sowie die Gewährung des Beobachterstatus im Rat und im Europäischen Parlament schlussendlich zur EU-Mitgliedschaft führt“, schlägt der CDU-Politiker vor. Bis zur Unterzeichnung des Beitrittsvertrags dürfte es daher noch viele Jahre dauern.

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