Großstadt unter Beschuss„Das Mariupol, das sie kannten, gibt es nicht mehr“

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Rauchsäulen über Mariupol am Freitag, 4. März.

Mariupol – Eine ukrainische Stadt mit in Friedenszeiten mehr als 400.000 Einwohnern ist seit Tagen heftigen Angriffen des russischen Militärs ausgesetzt: Mariupol. „Das Mariupol, das sie kannten, gibt es nicht mehr“, sagte der Bürgermeister der Stadt am Samstag in einer ukrainischen TV-Sendung.

Mariupol liegt am Asowschen Meer zwischen der ukrainisch-russischen Grenze im Osten und der Krim im Westen. Daher hat die Stadt strategische Bedeutung, da Russland eine selbst kontrollierte Landverbindung zwischen den Gegenden errichten möchte.

Russische Einheiten hätten alle 15 Stromleitungen in die Stadt ausgeschaltet, so Bürgermeister Wadym Boitschenko. Mariupol sei bereits seit fünf Tagen ohne Strom. Da die Heizkraftwerke für ihren Betrieb Strom benötigten, sitze man auch in der Kälte. Die Stadt befinde sich in einer „humanitären Blockade“.

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Der Mobilfunk funktioniere ebenfalls nicht, da die Stromversorgung des Netzes fehle. Noch vor Beginn des Krieges sei die Hauptwasserleitung abgetrennt worden, und nach fünf Kriegstagen habe man auch die Reservewasserversorgung verloren. Die russische Seite sei sehr methodisch vorgegangen, um die Stadt von jeglicher Versorgung abzuschneiden und so inneren Druck zu erzeugen.

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Schutzsuche auf dem Boden während russischen Beschuss am Freitag, 4. März, in Mariupol.

Für Samstag war eine großangelegte Evakuierung ziviler Gebiete von Mariupol geplant. Dafür hatten Russland und die Ukraine eine Feuerpause vereinbart. Die Evakuierung von Zivilisten aus Mariupol sei am Samstagmorgen angelaufen, so Vize-Bürgermeister Serhij Orlow am Abend in den Tagesthemen. Doch es habe dann erneuten Beschuss gegeben.

Daher seien die Menschen in Bunker und Häuser zurückgekehrt, wo sie sich sicherer fühlten. Die Sammelstellen seien mit Artillerie und Raketen beschossen worden. 20 von 50 Bussen zur Evakuierung seien zerstört worden.

Nach russischen Angaben hätten ukrainische Militäreinheiten die Waffenruhe gebrochen. Daher habe das Militär die „Offensivaktionen“ in Mariupol am Samstagnachmittag wieder aufgenommen.

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Eine junge Familie hetzt in ein Krankenhaus in Mariupol am Freitag, 4. März.

Durch den zunehmenden Beschuss und Bombardierungen sei auch die Zahl der Verletzten zuletzt in die „Tausende“ gestiegen, so Bürgermeister Boitschenko. Wie viele Menschen ums Leben gekommen seien, sei schwer zu zählen, da man den sechsten Tag praktisch durchgehend unter Beschuss stehe. Man habe keine Chance, nach seinen Liebsten zu sehen, da der Beschuss nicht aufhöre.

Es gehe um nichts anderes, als die „Ukraine von den Ukrainern zu befreien, so sehe ich das“, sagte der Bürgermeister. In Bezug auf die Stadt sprach Boitschenko von „Ruinen“ und „kolossaler“ Zerstörung.

Die humanitäre Situation in Mariupol ist nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) „katastrophal“. Der MSF-Notfallkoordinator in der Ukraine, Laurent Ligozat, sagte am Samstag, die Lage in der Großstadt verschlimmere sich „von Tag zu Tag“. Die Menschen in Mariupol hätten „sehr große Probleme, Zugang zu Trinkwasser zu bekommen“, sagte Ligozat. Dies werde zu einem „entscheidenden Problem“. „Die Lebensmittel gehen aus, die Läden sind leer.“

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Blick auf Mariupol am 3. März.

Angesichts der sich verschärfenden Lage im ganzen Land hat der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj erneut um westliche Unterstützung gebeten. Mit Blick auf finanzielle Hilfen und die „Fortsetzung von Sanktionen“ gegen Russland habe er erneut mit US-Präsident Joe Biden telefonierte, twitterte er.

Kiew fordert von der westlichen Gemeinschaft noch härtere Strafmaßnahmen gegen Russland, insbesondere gegen dessen Energiesektor. Den Appell der ukrainischen Regierung an die Nato, eine Flugverbotszone einzurichten, hat das Westbündnis unter Verweis auf eine drohende weitere Eskalation des Konflikts abgelehnt.

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Putin betonte am Samstag, dass die Schaffung einer Flugverbotszone über der Ukraine für Moskau eine rote Linie sei. Ein solcher Schritt würde „kolossale und katastrophale Folgen nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt“ haben, sagte er bei einem Treffen mit Mitarbeitern der russischen Airline Aeroflot.

Die Ukraine warnte der russische Präsident mit drastischen Worten vor dem Verlust ihrer Souveränität. „Die derzeitigen Machthaber (in Kiew) müssen verstehen, dass sie die Zukunft der ukrainischen Staatlichkeit in Frage stellen, wenn sie weiterhin tun, was sie tun. Und wenn das passiert, werden sie die volle Verantwortung dafür tragen.“

Mariupols Bürgermeister Boitschenko drängt weiter auf die Errichtung eines Korridors, um Ältere, Frauen und Kinder aus der Stadt zu bringen. Die Einwohner der Stadt seien niedergeschlagen. An die internationale Gemeinschaft und europäische Partnerländer gerichtet sagte er: „Helft und rettet Mariupol!“ (dpa/AFP/red)

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