Hallek und Stamp im Streit der WocheIst No Covid die bessere Strategie für NRW?

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Das Ziel von No-Covid ist es, europaweit eine Inzidenz von unter 10 auf 100.000 zu erreichen. 

Seit Dezember sind die Inzidenzen drastisch gesunken – Sollten die Maßnahmen dennoch fortgesetzt werden bis die Pandemie ganz unter Kontrolle ist?

Pro: Es geht um eine möglichst schnelle, aber auch nachhaltige Öffnung 

Mit dem Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen macht eine Gruppe von 14 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern konkrete Vorschläge, wie man schnell zu Öffnungen kommen kann, ohne einen Wiederanstieg der Infektionen und wiederholte weitere Lockdowns zu riskieren. Erreichen wollen wir dies durch regional differenziertes Öffnen, besseres Testen, Nachverfolgen der Infektionen, Isolieren und eine bessere Datenerhebung. Zudem zeigen wir, dass effiziente Pandemie-Bekämpfung und Förderung der Wirtschaft sich nicht nur verbinden lassen, sondern sogar unmittelbar voneinander abhängen.

In Deutschland erleben wir derzeit eine äußerst unterschiedliche regionale Verteilung der Inzidenz an Neuinfektionen. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, über eine regional differenzierte Strategie nachzudenken: Was kann man von den Besseren lernen? Wie kann man Städte und Kreise mit niedriger Inzidenz schützen? Welche Öffnungen kann man regional zulassen, ohne den Erfolg zu gefährden, etwa durch Einkaufstourismus?

Alles zum Thema Joachim Stamp

Grenzschließungen sind keine geplant

Eine Antwort sind „grüne Zonen“: kleine, durch die lokale Politik zu definierende Regionen wie Städte, Kreise oder Bundesländer, in denen im Idealfall keine Infektionen auftreten. Neue Infektionsketten sollen hier so schnell wie möglich erkannt und unterbrochen werden. Die grünen Zonen werden lokal etabliert und weiten sich zu größeren zusammenhängenden Regionen aus, im Idealfall über ganz Europa.

Grenzschließungen sind nicht geplant. Nötige Mobilitätseinschränkungen orientieren sich an den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Realitäten. Das Konzept wandelt eine zentrale Schwäche unseres derzeitigen Pandemie-Managements – die Zergliederung der Zuständigkeiten im föderalen System – in eine potenzielle Stärke um. Die Regionen werden motiviert, ihre Lage durch proaktives Handeln zu verbessern.

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Die effiziente, nachhaltige Kontrolle der Pandemie in den grünen Zonen erfordert die Verbesserung von Prozessen in den Gesundheitsämtern sowie das entschlossene Verfolgen aller Kontakte der Infizierten. Durch zielgenaues Erkennen von Infizierten, die dann schnell in Quarantäne gehen, wird die Weiterverbreitung des Virus unterbunden. Diese Entscheidungskette wird auch Test-Trace-Isolate (TTI)-Prozess genannt. Die Zeit zwischen Ansteckung und Quarantäne gilt es zu verkürzen. Die Hebelwirkung wäre enorm. Auch muss es das Ziel sein, jeden Kontakt Infizierter möglichst schnell zu erkennen. Zurzeit gelingt dies in weniger als der Hälfte aller Fälle.

Wirtschaftsleistungen geht bei Ansteckungen verloren, nicht im Lockdown

Der Großteil der verlorenen Wirtschaftsleistung ist auf die vielen Ansteckungen zurückzuführen, die erheblich zum Konsumrückgang beitragen. Investitionen in die schnelle Herstellung von Impfstoffen oder die Verfügbarkeit wirksamer Testsysteme sind auch unter ökonomischen Gesichtspunkten vorteilhaft. Die durch Impfungen zunehmende Immunität der Bevölkerung wird die No-Covid-Strategie unterstützen. Wir plädieren nicht für eine undifferenzierte Verschärfung von Maßnahmen mit breiter Einschränkung von Grundrechten. Im Gegenteil: Es geht um eine schnellstmögliche, aber nachhaltige Öffnung des gesellschaftlichen Lebens, ohne dabei den Gesundheitsschutz zu opfern. Dass dies möglich ist, zeigen Beispiele anderer Länder.

Die Zusammenstellung unserer Vorschläge finden Sie unter: www.yestonocovid.eu

Michael Hallek argumentiert als renommierter Mediziner und Mitinitiator von „NoCovid“

Contra: Wir können unsere hochvernetzte Gesellschaft nicht abriegeln

Neuseeland macht uns neidisch. Inzidenzen im kaum messbaren Bereich erlauben ein nahezu unbeschwertes Leben ohne Einschränkungen. Das Ziel, Corona auch hierzulande ganz „auszurotten“, wird nun von Anhängern einer Zero-Covid- beziehungsweise No-Covid-Strategie für ganz Europa gefordert. Setzen die Zero-Covid-Aktivisten auf eine generelle, sozialistisch geprägte Gesellschaftsveränderung, die über die Pandemiebekämpfung hinausgeht, wird No-Covid von einem breiteren Spektrum vertreten. Die Motive kann ich gut nachvollziehen.

Es ist der Wunsch, mit einem europaweiten harten Lockdown die Infektionszahlen nahe Null zu drücken, um uns dann einen „unbeschwerten Sommer“ zu ermöglichen. In Rechenmodellen mag das gehen. Aber weder unsere Gesellschaft noch die Europapolitik folgt mathematischen Gesetzen. Wie soll eine europaweite Strategie implementiert werden, wenn es nicht mal gelingt, ein paar Tausend Kinder aus griechischen Flüchtlingscamps in einem Europa von etwa 750 Millionen Einwohnern zu verteilen? Wie will man mit Tschechien, das bei einer Inzidenz von über 500 über Lockerungen diskutiert, einen harten Lockdown vereinbaren?

No-Covid ignoriert Folgeschäden, die passieren können

Isoliert in Deutschland ließe sich eine Sieben-Tage-Inzidenz von unter zehn selbst mit der Brechstange nicht erreichen. Wir können unsere hochvernetzte Gesellschaft nicht abriegeln, bis eine Inzidenz von null oder zehn erreicht ist und gehalten werden kann. Deutschland ist keine Insel. Nicht nur unsere Wirtschaft agiert international, auch viele Familien leben grenzüberschreitend. Es ist realitätsfern, das Land je nach Inzidenz in „grüne“ und „rote Zonen“ einzuteilen, die mit drastischen Reisebeschränkungen voneinander getrennt werden. Wie soll das kontrolliert werden?

Wir leben in einer offenen Gesellschaft und nicht in einem autoritären Regime wie in China, wo Menschen mit Polizeigewalt diszipliniert werden. No-Covid ignoriert die Folgeschäden, die ein noch härterer Lockdown bewirkt. Depressionen, Suizide, Verschiebung notwendiger Operationen, Schäden für die physische und psychische Entwicklung unserer Kinder, Bildungsbrüche und -abbrüche. No-Covid bleibt ein intellektuell anspruchsvolles akademisches Modell, dem jedoch der Bezug zur Realität fehlt.

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Auch ich setze auf Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen zu senken oder mindestens stabil zu halten, bis wir den notwendigen Impffortschritt erreicht haben. Einerseits müssen wir auf Sicht fahren und zwingend vermeiden, dass unsere Intensivmedizin überfordert wird. Andererseits müssen wir unsere Maßnahmen auf Folgeschäden für die Gesellschaft überprüfen und Perspektiven für eine verantwortungsvolle Öffnung aufzeigen.

Bildung und Betreuung soll oberste Priorität haben

Ich habe daher vorgeschlagen, in unterschiedlichen Phasen zu denken. Dabei sollte nicht nur die Inzidenz eine Rolle spielen, sondern auch Aspekte wie Verfügbarkeit von Schnelltests und zertifizierten Selbsttests, Impffortschritt bei Hochrisikopatienten und digitale Nachverfolgung von Infektionen. Und wir brauchen eine klare Priorisierung: Bildung und Betreuung unserer Kinder hat oberste Priorität. Sobald etwa gezielt personifizierte Schnelltests einsetzbar sind, können der Handel, aber auch Dienstleistungen, Kultur und Sport folgen. Politik in einer Demokratie bedeutet immer ein Abwägen. Einfache Lösungen gibt es nicht. Das gilt auch und gerade in der Pandemie.

Joachim Stamp ist seit 2017 der Landesvorsitzende der FDP und der stellvertretende Ministerpräsident sowie Minister für Familie und Integration von Nordrhein-Westfalen. 

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