Leben ohne LandDie Angst der Palästinenser vor den Siedlern

Lesezeit 8 Minuten
Portrait von Hafes

Hafes Hureini hat Angst, sein Land zu betreten.

Seit dem Terrorangriff der Hamas liegt der Fokus auf Israel und den Gazastreifen. Israelischen Siedlern wird vorgeworfen, das auszunutzen – um im Westjordanland Land an sich zu reißen.

Das Freitagsgebet im Dorf At-Tuwani ist gerade beendet, die Palästinenser im Süden des von Israel besetzten Westjordanlandes kommen aus der Moschee, die auf halber Höhe eines Hügels liegt. Ein israelischer Siedler läuft von oben die Anhöhe hinunter, er trägt ein Sturmgewehr und ist in Begleitung eines israelischen Soldaten. Vor der Moschee steht Sakaria Aladra, 28 Jahre alt, Vater von vier Kindern. Aladra hebt die Hände, als wolle er fragen, was der bewaffnete Mann hier will. Daraufhin stößt der Siedler ihn weg, wie auf einem Handyvideo zu sehen ist – und schießt ihm unvermittelt in den Bauch.

Aladra bricht bei dem Angriff am 13. Oktober zusammen, aufgebrachte Dorfbewohner eilen zu ihm und tragen den Verletzten davon. Der Siedler und der Soldat, die vom Siedlungsaußenposten Havat Ma‘on kommen, ziehen sich hangaufwärts zurück, ohne Hilfe zu leisten. Aladras Onkel Hafes Hureini (51), der in Sichtweite der Moschee lebt, sagt, israelische Soldaten hätten den Krankenwagen gestoppt, der den Schwerverletzten ins Krankenhaus hätte bringen sollen. „Während Sakaria stark geblutet hat, haben sie den Krankenwagen durchsucht“, sagt Hureini. Dorfbewohner hätten Aladra schließlich mit einem Auto in eine Klinik gebracht.

Aladra liegt weiterhin auf der Intensivstation. Im Arztbericht werden ihm massive interne Blutungen und schwere innere Verletzungen bescheinigt. Seine Schwester Sana Aladra (32) sagt, die israelische Polizei habe den Siedler einige Minuten verhört und ihn dann laufen gelassen. „Er hat gesagt, dass Sakaria ihm seine Waffe abnehmen wollte“ – im Video ist davon nichts zu sehen. „Es gibt überhaupt keine Gerechtigkeit. Wenn ein Palästinenser so mit einem Israeli umgegangen wäre, wäre er für immer im Gefängnis oder gleich getötet worden.“

Alles zum Thema Nahostkonflikt

Sana Aladra, Sarakrias Schwester

Sana Aladra, Sarakrias Schwester

Israel hatte das Westjordanland und Ost-Jerusalem während des Sechstagekriegs 1967 erobert, die Palästinenser beanspruchen beide Gebiete als Teil eines eigenen Staates. Inzwischen gibt es dort rund 200 israelische Siedlungen und mehr als 220 sogenannte Außenposten jüdischer Siedler, die die Region als ihre historische Heimat betrachten. Sie halten es für ihr gottgegebenes Recht, sich dort niederzulassen.

Nach offiziellen palästinensischen Angaben leben im Westjordanland rund 3,2 Millionen Palästinenser, hinzu kommen mehr als 700.000 israelische Siedler. Die meist auf Hügeln errichteten Siedlungen thronen wie Festungen über ärmlichen palästinensischen Dörfern. Geschützt werden sie durch Mauern, Stacheldraht und Wachtürme. Die Vereinten Nationen stufen die Siedlungen als völkerrechtswidrig ein, die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu fördert dennoch ihren Ausbau – und so breiten sie sich ungehindert immer weiter aus. Palästinenser im Westjordanland werfen den Siedlern Landraub vor, sie fühlen sich entrechtet.

Besondere Brutalität

Die palästinensischen Autonomiegebiete verteilen sich auf den Gazastreifen – von dort kamen die Terroristen beim Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober – und auf Teile des Westjordanlandes. Die Hamas, die sich zum Ziel gesetzt hat, Israel auszulöschen, beherrscht den Gazastreifen. Die konkurrierende Palästinenserorganisation Fatah, die Israel anerkennt, kontrolliert das Westjordanland. Die beiden Gebiete sind nicht miteinander verbunden, dazwischen liegt Israel. Palästinenser, aber auch Menschenrechtler beklagen, dass die Siedler im Westjordanland seit dem Hamas-Angriff aus Gaza mit besonders großer Brutalität vorgehen und dabei oft von Soldaten unterstützt werden.

„Die Siedler nutzen den Hamas-Angriff als Vorwand, um so viele von uns zu töten und so viel Land zu rauben wie möglich“, sagt Sana Aladra. Die israelische Menschenrechtsorganisation B‘Tselem kritisiert „eine konzertierte und organisierte Aktion von Siedlern, die die Tatsache ausnutzen, dass die gesamte internationale und lokale Aufmerksamkeit auf den Gazastreifen und den Norden Israels gerichtet ist, um zu versuchen, Land im Westjordanland zu konfiszieren“.

Ein Baum markiert die Grenze von Hafes Hureinis Land.

Der Baum markiert die Grenze von Hafes Hureinis Land.

Hafes Hureini baut Oliven, Trauben und Feigen an, in diesen Tagen sollte eigentlich die Olivenernte beginnen. Sein Land liegt auf dem Hügel hinter seinem Haus, zuletzt war er am Tag nach dem Hamas-Angriff auf Israel dort. Israelische Bulldozer hätten Mauern und Bäume niedergewalzt, sagt der 51-Jährige. Siedler hätten ihn von seinem eigenen Land gejagt, ihn den Hügel hinuntergetrieben und ihm zwischen die Füße geschossen.

„Wohin sollen wir gehen?“

„Sie haben mich vor meinem eigenen Haus angegriffen“, sagt Hureini, während er Kette raucht. Seine Geschichte erzählt er im Wohnzimmer der Familie, dort werden Kaffee und Tee gereicht. Sein Land kann er nicht zeigen, dorthin traut er sich nicht mehr. Mit den Besuchern aus Deutschland geht er nur einige Meter den Hang hinauf. Von dort aus kann man zwar nicht sehen, was auf seinem Land geschieht. Was man aber sieht: Die beiden israelischen Flaggen, die Siedler dort gehisst haben.

Auch das Land anderer Bewohner des 400-Seelen-Dorfes hätten Siedler unter ihre Kontrolle gebracht, sagt Hureini. „Ihr Plan ist es, das Land zu übernehmen und die Menschen von hier zu vertreiben. Aber wohin sollen wir denn gehen?“ Die Menschen in der Region lebten seit dem 7. Oktober in konstanter Angst. „Die Siedler können töten, ohne dass es Konsequenzen hat.“ Dennoch dürfe man ihnen keinen Vorwand für Angriffe liefern. „Wir müssen uns gewaltfrei wehren.“ Niemand hier rechtfertigt im Gespräch mit den deutschen Reportern die Gewalt der Hamas gegen Zivilisten.

Hafes‘ Sohn Sami Hureini und andere junge Palästinenser haben Nachtwachen organisiert. „Wir müssen wach bleiben, falls die Siedler versuchen, unsere Häuser anzuzünden“, sagt der 26-Jährige. Es gehe dabei nur um Selbstverteidigung. „Wir sind nicht militant. Wir stehen bewaffneten Siedlern gegenüber, die von Soldaten unterstützt werden.“ Wie sie sich im Fall eines Angriffs wehren wollten? „Mit unseren Händen und unseren Körpern“, sagt Sami Hureini. Waffen habe man nicht.

Die israelische Mauer, die Bethlehem von Jerusalem trennt.

Die israelische Mauer, die Bethlehem von Jerusalem trennt.

Seit dem Hamas-Angriff auf Israel wird das Westjordanland von einer Welle an Gewalt erschüttert. „Unser Büro hat Berichte erhalten, wonach seit dem 7. Oktober 69 Palästinenser, darunter mindestens 15 Kinder und eine Frau, von israelischen Sicherheitskräften im besetzten Westjordanland getötet wurden“, beklagte die Sprecherin des UN-Menschenrechtsbüros, Ravina Shamdasani, Ende vergangener Woche. „Auch die Gewalt der Siedler hat weiter zugenommen: Sechs Palästinenser wurden von bewaffneten Siedlern getötet, und eine Reihe von palästinensischen Gemeinden wurde von ihrem Land vertrieben.“

Das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA teilte am Sonntag mit, in diesem Jahr seien im Westjordanland bereits mehr als 270 Palästinenser getötet worden – 20 Prozent davon seien Kinder, mehr als die Hälfte davon seien Flüchtlinge gewesen. Das sei der höchste Wert seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2012.

B‘tselem kritisiert, Israel nutze den Krieg seit dem 7. Oktober „zynisch aus, um seine politische Agenda der Landnahme im Westjordanland voranzutreiben“. Um dieses Ziel zu erreichen, „hat die staatlich unterstützte Siedlergewalt gegen Palästinenser sowohl an Häufigkeit als auch an Intensität zugenommen“. Oft seien Soldaten oder Polizisten an Angriffen beteiligt. Zwischen dem 7. und dem 19. Oktober seien mehr als 550 Palästinenser im Westjordanland vertrieben worden.

Daud Nassar wehrt sich seit fast 33 Jahren juristisch dagegen, dass der israelische Staat ihm sein Land in der Nähe von Bethlehem nimmt, das inzwischen von fünf israelischen Siedlungen umgeben ist. Er habe rund hundert Jahre alte Dokumente, die seine Familie eindeutig als Besitzer ausweise, sagt Nassar. Dennoch sei sein Land 1991 als besitzlos erklärt worden. Er habe damals gedacht, die Angelegenheit werde sich schnell erledigen. „Stattdessen sind wir bis heute in einem Rechtsstreit darüber.“ Immer wieder sei das Verfahren verzögert worden, zwischenzeitlich seien Akten verloren gegangen, dann seien wieder neue Anforderungen gestellt worden.

Zugleich hätten Übergriffe der Siedler zugenommen, sagt der 53-Jährige. Seine Familie sei bedroht worden. Bäume seien niedergebrannt, Wassertanks beschädigt worden. Siedler hätten versucht, Straßen auf dem Land zu bauen. „Wir versuchen immer, ihnen auf dem Rechtsweg zu begegnen. Das ist nicht leicht, wenn man sich diesen Herausforderungen gegenübersieht.“ Die israelischen Siedlungen um ihn herum hätten Strom und fließendes Wasser, seine Anträge darauf würden stets abgelehnt. Dabei sei er noch in einer vergleichsweise guten Lage: Die meisten Palästinenser hätten keine Dokumente, um ihren Besitz nachzuweisen. „Viele von ihnen verlieren ihr Land.“

Internationale Begegnungsstätte

Nassar hat unter anderem in Bielefeld studiert und spricht fließend Deutsch. Das Treffen findet in einem Café in Bethlehem statt, weil Nassar es derzeit wegen der Unberechenbarkeit der Siedler für zu riskant hält, auf sein Land zu fahren. Er gehört zur Minderheit der palästinensischen Christen und kritisiert, Religion werde in dem Konflikt missbraucht. Mit Blick auf seine Landurkunden habe ihm ein Siedler einmal gesagt: „Du hast Papiere von hier. Aber ich habe Papiere von Gott.“

Im Jahr 2001 hat Nassars Familie beschlossen, die Farm zu einer internationalen Begegnungsstätte mit dem Namen „Tent of Nations“ zu machen. 7000 Menschen aus vielen Ländern kämen im Jahr, „die mit einer Botschaft der Hoffnung zurück nach Hause gehen: Dass Menschen das Recht haben, in Frieden, Freiheit und Würde auf ihrem Land zu leben“, sagt Nassar. Seit dem Hamas-Angriff ist allerdings auch die Begegnungsstätte verwaist.

Nassar ist wichtig, eine Botschaft loszuwerden: „Wir weigern uns, Opfer zu sein. Wir weigern uns zu hassen, auch wenn das einfacher gesagt als getan ist. Wir weigern uns, Feinde zu sein, und wir glauben an Gerechtigkeit.“ Natürlich erscheine die Lage im Moment hoffnungslos, sagt er. „Wir sind in einem dunklen Tunnel. Aber Hoffnung heißt, dass wir uns auf eine brennende Kerze konzentrieren, die uns aus diesem Tunnel hinausbringt.“

KStA abonnieren