Marie-Agnes Strack-Zimmermann„Ich hoffe, dass unsere Naivität seit dem 24. Februar 2022 Geschichte ist“

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Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschuss des Bundestags.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschuss des Bundestags.

Die FDP-Politikerin spricht über die ersten Tage nach dem Angriff Russlands und ihre frühe Reise in die Ukraine.

Frau Strack-Zimmermann, wie haben Sie den Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine erlebt, diesen 24. Februar 2022?

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Ich habe besondere Erinnerungen an den 21. Februar. Da hat Wladimir Putin die selbst ernannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk anerkannt und dazu ein entsprechendes Dekret im Kreml unterschrieben. Die beiden von Putins Gnaden auserkorenen Vertreter waren anwesend. Ich habe mir das im Fernsehen angeschaut. Mir war klar, dass es sich bei diesem Akt um eine Kriegserklärung handelt. Es war das Signal, dass die Lage mehr als ernst ist. Manchen hat meine Einschätzung damals irritiert.

Und Sie haben gleich zu einer Sondersitzung des Verteidigungsausschusses geladen.

Für den 24. Februar um die Mittagszeit. Es war eine sitzungsfreie Woche und jeder sollte die Zeit haben anzureisen. Als ob wir es alle geahnt hätten. In der Nacht auf den 24.2. lief ja dann auch der russische Angriff. Wir saßen im Ausschuss zusammen, die Stimmung war angespannt. Jedem war klar, dass da etwas ganz Entsetzliches und Folgenschweres passiert. Die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht war bei dieser Sitzung auch anwesend. Die Hintergründe des Angriffs, soweit überhaupt schon bekannt, wurden unter anderem auch von Vertretern des BND unter „geheim“ eingeordnet.

Mit welchem Gefühl saßen Sie da?

Es wurde uns Monate vorher immer wieder berichtet, wie die russische Übung verläuft beziehungsweise ein möglicher Aufmarsch der russischen Armee aussehen könnte. Es war deutlich, dass der Druck auf die Ukraine über die üblichen russischen Frühjahrsübungen hinausgeht. Aber die Hoffnung schwindet bekanntlich zuletzt. Manche Dinge will man sich einfach nicht vorstellen. Als ich nach der Sitzung Berlin verließ, war mein Herz schwer. Das war alles krass surreal.

Die Bundesregierung hat schnell reagiert. Am 27. Februar hat Kanzler Olaf Scholz im Bundestag eine Zeitenwende und ein Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro verkündet.

Ich habe die Rede des Kanzlers im Fernsehen verfolgt, einen Tag vorher wurde ich nämlich coronapositiv getestet. Vor der außerordentlichen Sitzung des Bundestags hat Christian Lindner unserer FDP-Fraktion angekündigt, dass unter diesen Umständen schnellstmöglich mehr Geld für die Bundeswehr in die Hand genommen werden müsse. Ich war online zugeschaltet und offen gestanden über diese Nachricht sehr froh.

Haben Sie eine Gefahr für Deutschland gesehen?

Eine unmittelbare Gefahr habe ich nicht gesehen. Es war uns allen aber schon lange klar, dass die Bundeswehr endlich besser ausgestattet werden muss, damit sie den Anforderungen der Nato auch entsprechen kann. Es war daher genau richtig, die Wehrfähigkeit der Bundeswehr just in dieser kritischen Phase zu thematisieren. Das hat der Bundeskanzler in seiner Rede ja auch dezidiert getan. Der Begriff der Zeitenwende traf diese Situation auf den Punkt und wurde weltweit bekannt. Ich fand die Rede sehr gut. Sie klingt immer noch nach.

Hatten Sie irgendwann in den vergangen Monaten Angst, beispielsweise davor, dass der Krieg sich ausweitet – und sei es durch einen Zufall?

Angst hatte ich zu keinem Zeitpunkt. Vielleicht liegt das daran, dass ich ein positiver Mensch bin und deswegen nicht so schnell in Abgründe schaue. Und ich hatte immer schon großes Vertrauen in die Bundeswehr und in das Nordatlantische Bündnis. Ich war mir sicher, dass die Nato ein starker Schutzschirm für uns alle ist. Dass die Nato in den letzten zwölf Monaten so souverän und überlegt reagiert hat und darüber hinaus Schweden und Finnland Mitglied werden, ist wirklich historisch bemerkenswert.

Waren Sie überrascht? Es war noch nicht so lange her, da hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Nato für hirntot erklärt.

In schweren Krisen zeigen Menschen und Organisationen ihre Resilienz. Die Nato, geführt von dem Generalsekretär Jens Stoltenberg, beweist gerade, dass sie kein bisschen hirntot ist, sondern sehr lebendig.

Mit den Vorsitzenden des Europaausschusses und des Auswärtigen Ausschusses, Toni Hofreiter und Michael Roth, sind Sie sehr schnell nach Kiew gefahren. Das ist auch wahrgenommen worden als Treiben des Kanzlers. Sollte es das auch sein?

Zum Zeitpunkt des Angriffes waren wir drei Ausschussvorsitzenden gerade mal 72 Tage im Amt. Viel hatten wir bis dahin nicht miteinander zu tun. Wir folgten alle drei dem richtigen Impuls: dass wir in die Ukraine reisen sollten, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Manche in Berlin interpretierten diese Reise prompt als Affront dem Kanzler gegenüber. Die Bundestagsverwaltung war zugegebenermaßen anfangs bei der Organisation auch nicht sehr hilfreich, vermutlich, weil nicht alle in der Regierung von der Reise begeistert waren. Letztlich haben wir zu verstehen gegeben, dass wir uns als Mitglieder des Deutschen Bundestags nicht davon abhalten lassen, der Einladung einiger ukrainischer Abgeordneten nachzukommen, und dass wir gegebenenfalls auch mit einem privaten PKW dorthin fahren würden.

Hat sich Ihre Position durch die Reise verändert?

Ich persönlich fühlte mich bestätigt in meiner Meinung, die Ukraine wirtschaftlich, humanitär und auch mit Waffen zu unterstützen. Wir haben in Lviv Gespräche geführt, ein Krankenhaus besucht, in dem schwer verletzte ukrainische Soldaten behandelt wurden, und im Anschluss daran ein durch eine russische Rakete zerstörtes Öllager begutachtet. Da konnte man erahnen, was eine einzige Rakete anrichten kann. Vonseiten der SPD kam tags darauf der Vorwurf, wir seien nach dieser Reise „voller Emotionen“ zurückgekehrt. Diese Bemerkung war schon bizarr. Gerade in der Politik sollte man seine Empathie nicht an der Türe zum Plenarsaal abgeben.

Nach Ihnen ist Außenministerin Annalena Baerbock nach Kiew gereist, dann folgte CDU-Chef Friedrich Merz. Gegen Kanzler Scholz entstand der Vorwurf der Zögerlichkeit, der ihm dann auch bei den Waffenlieferungen gemacht wurde. Aber haben Parlamentarier und Kanzler nicht unterschiedliche Rollen?

Natürlich haben die Legislative und die Exekutive unterschiedliche Rollen. Dennoch habe ich es extrem bedauert, dass nach der deutlichen Ansage des Kanzlers im Plenum wochenlang erst einmal nichts passierte. Bis heute ist mir das ein Rätsel.

Sie haben stets sehr auf Waffenlieferungen gedrängt. Von Scholz‘ Hinweis auf die Absprachen mit Verbündeten halten Sie nichts?

Durch die monatelange Debatte darüber haben wir kostbare Zeit verloren. Wenn bestimmte Waffen frühzeitig in der Ukraine gewesen wären, hätte es diese Stellungskämpfe, wie sie jetzt erfolgen, nicht gegeben. Natürlich sprechen wir uns immer mit den Verbündeten ab. Aber ich hätte mir gewünscht, dass Deutschland eine sichtbare Vorreiterrolle übernimmt. Das Ramstein-Format, alle Nato-Verteidigungsminister treffen sich dort, wurde von den USA initiiert. Wieso eigentlich nicht von uns? Ich hätte mir vorstellen können, dass Deutschland Vorschläge macht, was geliefert werden kann und soll. Ich weiß von allen Partnern, dass viele darauf gewartet haben, dass Deutschland diese Rolle annimmt. Aber wir reagieren nicht aus eigener Initiative heraus, sondern nur, wenn der Druck von außen zunimmt. Dadurch rennen wir der Lage immer hinterher.

Auch in der Bevölkerung gab und gibt es Skepsis gegenüber den Panzerlieferungen.

Es ist extrem unwahrscheinlich, dass bei einer politischen Entscheidung, zumal bei einer solchen Tragweite, 83 Millionen Menschen in Deutschland einer Meinung sind. Man sollte seine Politik dennoch nicht ausschließlich nach Umfragen ausrichten. Der frühere Bundespräsident und FDP-Außenminister Walter Scheel hat einmal bemerkt: „Die Aufgabe eines Politikers ist nicht, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun, sondern das Richtige zu tun und es populär zu machen.“ Das sollte in der Tat unser Anspruch sein: dass man auch den Mut hat, Entscheidungen zu treffen und diese dann zu erklären. Nur so gewinnt man auch Vertrauen.

Aber dann kommen Sie daher, Frau Strack-Zimmermann, und sagen, der Kanzler hat versagt. Nicht gerade vertrauensfördernd, oder?

Ich äußerte mich nach dem Treffen der Nato-Verteidigungsminister bei der Ramstein-Konferenz. Die Erwartung an das Treffen, auch grünes Licht für die Lieferung des Leopards zu geben, war auch medial enorm. Es war aber leider ein „Nichtentscheidungs“-Ergebnis. Nicht mal den EU-Partnern, die den Leopard 2 auch nutzen, wurde eine Erlaubnis zum Export in die Ukraine zugestanden. Der neue Verteidigungsminister stand in diesem Augenblick vor der internationalen Öffentlichkeit mit leeren Händen da. In diesem Kontext habe ich gesagt, dass Deutschland an diesem Tag versagt hat. Wenige Tage später kam ja dann die Entscheidung, neben dem Schützenpanzer Marder auch den Kampfpanzer Leopard zu liefern. Alle Argumente, die immer wieder herhalten mussten, um die Lieferung zu verhindern, waren plötzlich wie weggeblasen. Im Nachhinein sehr ärgerlich.

Erklärt der Kanzler mittlerweile genug?

Er sollte es, auch um Gerüchten vorzubeugen, zum Beispiel, er wisse deutlich mehr als alle anderen, oder er würde von Russland erpresst. Letzteres ist wirklich absurd. Das passiert aber, wenn man das Feld kommunikativ den Trollen überlässt.

Die Ukraine fordert mittlerweile die Lieferung von Kampfjets. Die Regierung sagt, das stehe derzeit nicht zur Debatte. Künftig also schon?

Die Ukraine braucht alles, was hilft, um den russischen Angriff zu bestehen. Nicht jedes Land kann aber alles, was benötigt wird, auch liefern. Nötig sind vor allem Flugabwehr, Artillerie, Munition und eben auch Panzer. Wenn es um Luftunterstützung geht, davon spricht inzwischen auch der Nato-Generalsekretär, dann könnte Deutschland den osteuropäischen Ländern, sofern es diese wünschen, die Genehmigung erteilen, alte MIGs – sowjetische Jagdflugzeuge aus DDR-Bestand – an die Ukraine zu liefern. Das sind in der Ukraine bekannte Systeme. Unsere Eurofighter und Tornados sehe ich allerdings nicht über der Ukraine.

Kann es Friedensverhandlungen geben, solange in Russland Wladimir Putin an der Macht ist?

Wir wissen zu wenig über die Lage im „inner circle“ Moskaus. Auch wie lange die russische Bevölkerung diesen Irrsinn noch mitmacht. Es fallen seit diesem brutalen russischen Angriff ja auch Tausende von russischen Soldaten. Wirklich beurteilen kann ich das aber nicht.

Haben Sie gute Kontakte zu russischen Bürgern?

Nicht mit Bürgern, die noch in Russland leben.

Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und Ex-Berater von Angela Merkel, sagt, dass Russland „deputinisiert“ werden müsse.

Vermutlich. Aber das wird wie auch immer eine Frage von Jahrzehnten sein. Wir wissen aus unserer Geschichte, wie lange es mit unseren Nachbarn gedauert hat, bis aus Feindschaft Freundschaft wurde.

Für wie brenzlig halten Sie die Lage derzeit?

Die Lage ist ernst. Es geht auch um unsere Demokratie in Frieden und Freiheit. Daher ist auch extrem wichtig, über diesen Angriffskriegs immer wieder zu berichten und sich nicht schicksalsergeben an ihn zu gewöhnen.

Wie lange wird der Krieg noch dauern?

Irgendwann wird er ein Ende finden, weil jeder Krieg ein Ende hat. Aber wie das aussehen könnte? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Russland nach diesem völkerrechtswidrigen Überfall nicht belohnt werden darf und ukrainisches Territorium erhält. Die Folge wäre, dass auf kurz oder lang alle anderen Nachbarstaaten gefährdet wären. Die Menschen in Georgien, Moldau und auch im Baltikum haben zu Recht Angst davor. Ich hoffe, dass unsere Naivität, dass schon nichts passieren wird, seit dem 24. Februar 2022 endgültig Geschichte ist.

Wenn Sie Verteidigungs- oder Außenministerin wären, was würden Sie jetzt machen?

Ich würde austarieren, ob es neben Putin andere Gesprächskanäle in Russland gibt. Am Ende aber entscheidet nicht Berlin, Washington oder Paris, wie die Zukunft aussieht, sondern das Land, welches brutal überfallen wurde und seit einem Jahr ums Überleben kämpft: die Ukraine selbst.

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