Neuer Präses Thorsten Latzel„Das Thema Missbrauch ist belastend für die Kirche“

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Thorsten Latzel

  • Der neue Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Thorsten Latzel, spricht im über die Rolle der Kirche in Zeiten von Corona, Sparzwängen und Missbrauchsskandalen.

Herr Latzel, Sie haben in Ihrer Bewerbungsrede vor der Wahl zum neuen Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland gesagt, dass Sie Kirche „konsequent von den Menschen her denken“ wollen. Was heißt das konkret? Thorsten Latzel: Kirche muss Wegbegleiterin und Lebensgefährtin sein. Sie muss da sein, wenn Menschen sie brauchen. Das kann – je nach Lebenslage und Lebensalter – sehr Unterschiedliches bedeuten. In der Pandemie zum Beispiel sind Besuche bei kranken und einsamen Menschen, in Alters- und Pflegeheimen wichtig, aber auch die Angebote für Kinder und Jugendliche.

Ziehen Sie sich den Schuh an, dass die Kirche gerade in der ersten Phase der Pandemie nicht an der Seite der Bedürftigen war, ja sogar in der Fürsorge versagt hat?

Überhaupt nicht, weil dieser Vorwurf die ganze Vielfalt im Handeln unserer Gemeinden ignoriert. Da gab es sogar einen regelrechten Kreativitätsschub, wie der Kontakt zu den Menschen unter den für alle neuen, schwierigen Bedingungen gepflegt wurde. Seelsorge geschieht oft im Stillen und Verborgenen. Davon haben die Lautsprecher entsprechend wenig mitbekommen.

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Und von der Anwaltschaft der offiziellen Kirche?

Da haben wir gleichfalls nicht alles ins Schaufenster gehängt, was getan wurde, um zum Beispiel seelsorgerliche Präsenz in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen zu gewährleisten. Also, auch hier teile ich die Kritik nicht. Und ich bin umgekehrt sehr stolz, dass nicht eine Kirche im Bereich der EKD nach der Wiederöffnung für Gottesdienste zum einem Corona-Hotspot geworden ist. Kirchenleitungen und Gemeinden sind ihrer Verantwortung für die Gesundheit, den Schutz der Menschen und die Pandemiebekämpfung vorbildlich gerecht geworden.

Welche Rolle sehen Sie für die Kirche im Verlauf der Corona-Krise?

Ein Jahr nach dem Hereinbrechen der Pandemie sehe ich eine wichtige Aufgabe darin, den Menschen Hoffnung zu verleihen. Wir alle haben große Verluste erlitten. Zigtausende sind gestorben. Ungezählte Menschen trauern um ihre Toten. Es gibt wirtschaftliche Einschränkungen, die Bildungsgerechtigkeit steht infrage. Umso mehr kommt es jetzt auf Trauerbewältigung an, Kraft zum Durchhalten. Der christliche Glaube und die christliche Tradition bieten hier einen großen Schatz an Erfahrungen an im Umgang mit Wüstenzeiten, mit Krankheit und Leid. Ein zweiter Punkt sind Perspektiven für die Zeit danach. Geschichte ereignet sich nicht einfach. Geschichte ist das, was wir daraus machen. Unsere Aufgabe ist es, aus dieser Pandemie das Beste für die Zukunft zu machen. Wir wollen als Kirche unseren Beitrag leisten, wie Solidarität, Zusammenhalt und Verantwortung für einander auch weiter gestärkt werden können.

Sie sind der erste rheinische Präses, der nicht aus der rheinischen Kirche stammt. Da sind Sie erst mal ziemlich im Hintertreffen.

Es liegt aber auch ein Reiz darin, etwas von außen mitzubringen und beizutragen. Ich habe Berufserfahrung in drei Landeskirchen und auf der Ebene der EKD. Die rheinische Kirche selbst ist ausgesprochen vielfältig und bunt. Ich freue mich aufs Kennenlernen und habe schon jetzt das Gefühl, dass mein Herz beginnt, rheinisch zu schlagen. Ihre Vorgänger standen für ein politisches Profil des Protestantismus im Rheinland. Welches Angebot machen Sie dem anderen, evangelikalen Flügel der rheinischen Kirche? Evangelikal ist ein Schlagwort, ein Oberbegriff, unter dem sich ein großes, breites Spektrum an Lebens- und Frömmigkeitsformen versammelt. Ich bin selber im CVJM groß geworden und habe zum Beispiel den Reichtum der Bibelfrömmigkeit schätzen gelernt. Und auch der „politische Protestantismus“ in der Tradition etwa der „Barmer Theologischen Erklärung“ ist von einer tiefen Christusfrömmigkeit durchdrungen. Also, ich freue mich auf den Austausch mit Christinnen und Christen unterschiedlichsten Spektrums.

Gehört auch das Spektrum dazu, das Ihr Bruder Olaf als Pfarrer mit seiner von einem Gericht als volksverhetzend eingestuften Verurteilung von Homosexualität vertritt?

Ich äußere mich nicht öffentlich zu Familienmitgliedern. Mein Bruder ist mein Bruder, und ich bin ich. Wofür ich theologisch stehe, ist ganz klar: eine liberale Kirche, die die Pluralität der Lebensformen und auch sexuellen Orientierungen bejaht. Und mir ist wichtig, dass es in der Evangelischen Kirche im Rheinland keine Diskriminierung gibt, sondern wir im Gegenteil aktiv für Minderheiten und deren Rechte einstehen.

Sie haben einmal gesagt, für Sie sei Homosexualität „so normal wie Kaugummi kauen“. Warum haben Sie ausgerechnet diesen Vergleich gewählt?

Das ist ein Zitat der „Ärzte“ aus ihrem Lied „M&F“: Manche Männer lieben Männer, / manche Frauen eben Frauen. / Da gibt’s nichts zu bedauern und nichts zu staunen. / Das ist genau so normal wie Kaugummi kauen. / Und die meisten werden sich das niemals trauen.“

Die Anspielung haben allerdings auch andere nicht verstanden. Was ich sagen wollte: Homosexualität ist selbstverständlicher Alltag, nichts, was großer Diskussionen bedürfte. Und das Wesen des christlichen Glaubens nach evangelischem Verständnis liegt darin, dass alle Menschen in der „Freiheit der Kinder Gottes“ und der Verantwortung für andere ihr Leben leben dürfen.

Zur Person

Thorsten Latzel, geb. 1970, wurde im Januar von der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) zum Nachfolger von Präses Manfred Rekowski gewählt. Latzel stammt aus Bad Laasphe und hat in Marburg und Heidelberg Theologie studiert. Von 2005 bis 2012 leitete er das Referat „Studien- und Planungsfragen“ im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. 2013 wurde er Direktor der Evangelischen Akademie Frankfurt. Latzel ist verheiratet und hat drei Kinder. In einem eigenen Blog veröffentlicht er jede Woche theologische Impulse. (jf) Glauben-denken.de

Sie treten an die Spitze einer Kirche, die sparen muss, verschärft noch einmal aufgrund der Einbußen infolge der Pandemie. Der Präses als Sparkommissar – wie wird das gehen?

Die Synode hat zwei Arbeitsgruppen eingesetzt: eine für kurzfristige Einsparungen, eine zweite für die strategische Planung mit deutlich geringeren Budgets. Beide Gremien werden in Kürze ihre Vorschläge machen.

Was denken Sie: Worauf muss die Kirche als Erstes verzichten?

Wir sollten jedenfalls nicht einfach Dinge sein lassen, ohne Neues aufzubauen. Ich sehe uns in einem Transformationsprozess von der Volkskirche zu einer weltoffenen Mitgliederkirche. Wir dürfen nicht den Fehler machen, ein altes Modell nur immer weiter zu verkleinern. Heißt Überzeugungschristen statt Traditionschristen? In der Volkskirche gehörte man selbstverständlich dazu und trat niemals aus. Das ist heute offensichtlich nicht mehr der Fall. Menschen fragen danach, was Kirchenmitgliedschaft für sie bedeutet. Aus Sicht der Institution heißt das: Wir wollen die Beziehung pflegen zu jedem Mitglied, ohne dass es auf Kosten unserer Ausrichtung auf gesellschaftliche Themen wie Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung geht. Deshalb weltoffene Mitgliederkirche.

Sie kennen die Austrittszahlen?

Die offizielle Statistik kommt immer erst zur Jahresmitte. Wie das Corona-Jahr sich ausgewirkt hat, werden wir sehen müssen.

Und die Skandale – in Ihrer Schwesterkirche, dem Erzbistum Köln?

Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, der katholischen Kirche öffentlich Ratschläge zu erteilen. Das Thema Missbrauch ist belastend – für die Gesellschaft insgesamt, besonders aber für uns als Kirche. Dort, wo sich Seelsorge ereignen sollte, haben Menschen traumatisierende Gewalt erleiden müssen. Wir stehen als Kirche auf der Seite der Betroffenen. In der rheinischen Kirche wollen wir erstens mit umfassenden Präventions- und Schutzkonzepten alles in unserer Macht Stehende dafür tun, dass Kinder und Jugendliche nicht solche traumatischen Erfahrungen erleiden müssen. Und zweitens bemühen wir uns um die Aufarbeitung dessen, was gewesen ist. Unser Handeln ruht auf einer beratenden Säule mit umfassenden Angeboten für die Betroffenen und auf einer juristischen Säule mit einem entschiedenen strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Vorgehen gegen die Täter. Schlussendlich haben wir eine Kommission eingerichtet, um erlittenes Unrecht auch durch finanzielle Leistungen anzuerkennen. Dabei orientieren wir uns an den anerkannten Schmerzensgeld-Tabellen mit Summen in mittlerer fünfstelliger Höhe.

Die Evangelische Kirche im Rheinland

Die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) ist die zweitgrößte deutsche Landeskirche mit rund 2,4 Millionen Mitgliedern in 655 Kirchengemeinden. Ihr Gebiet erstreckt sich über fünf Bundesländer vom Niederrhein bis ins Saarland. Geleitet wird die Kirche von dem oder der Präses mit einer Amtszeit von acht Jahren. Sitz der EKiR ist Düsseldorf. Der neue Präses wird am Samstag in einem Festgottesdienst ins Amt eingeführt. Zugleich wird sein Vorgänger Manfred Rekowski verabschiedet, der das Präsesamt seit 2013 innehatte. Die Feier in der Düsseldorfer Johanneskirche, an der unter anderem NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und der Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Woelki, teilnehmen, wird vom WDR Fernsehen von 11 bis 12 Uhr live übertragen. (jf)

Warum ist die EKD immer noch nicht mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, zu verbindlichen Formen der Aufarbeitung gelangt?

Die EKD hat einen Betroffenenbeirat eingerichtet. Dass es unterschiedliche Einschätzungen zu den Fortschritten der Aufarbeitung gibt, ist unbestreitbar. Aber in der EKD mangelt es weder am Willen noch am Engagement der Verantwortlichen.

Wenn man Rörigs Kritik hört, sind Zweifel angebracht.

Ich kann nur das wiedergeben, was ich bisher erlebt habe. Ich werde mir in meiner neuen Aufgabe aber noch einmal konkreter anschauen, wo wir stehen und was passiert.

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