Vorfälle auch an GrundschulenAntisemitismus an NRW-Schulen hat laut Experten massiv zugenommen

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Jugendliche Kinder per Fahrrad auf dem Schulweg.

Schüler, Eltern und Schulen in NRW haben einen immensen Bedarf an Unterstützung beim Thema Antisemitismus. Eine Expertenrunde tauschte sich nun dazu aus. (Symbolbild)

Fachleute sehen Überforderung und Unsicherheit der Lehrkräfte in NRW – und fordern eine Reform der Lehrerausbildung.

Antisemitismus an Schulen in NRW hat seit dem Angriff der Hamas auf Israel massiv zugenommen. In einer Anhörung im Landtag bestätigten alle Experten ein sich zuspitzendes Problem. Zudem konstatierten sie große Handlungsunsicherheit bei den Lehrkräften, die sich mit dem Thema Nahostkonflikt und Antisemitismus überfordert fühlten.

Die Servicestelle „Antidiskriminierungsarbeit Beratung bei Rassismus und Antisemitismus“ (SABRA) hat die Tatorte antisemitischer Vorfälle in NRW ausgewertet. Demnach haben sich mit Abstand die meisten Vorfälle in der Schule zugetragen. „Allein von Mitte Oktober bis Ende Dezember hatten wir 100 Anfragen von Schulen und Lehrkräften“, erläuterte Sebastian Mohr von SABRA. Selbst an Grundschulen gebe es Vorfälle. Stella Shcherbatova von der Psychologischen Beratung des Kölner NS-Dokumentationszentrums berichtete, dass sich die Beratungsanfragen zuletzt verdreifacht hätten.

Antisemitismus: Aus Schulfreunden sollen plötzlich Feinde werden

Über 60 Prozent der Ratsuchenden waren Schulen, Jugendliche und Familien. Da sei der achtjährige jüdische Junge, dem der muslimische beste Freund erklärte, sie könnten nun nicht mehr befreundet sein, da sie Feinde seien. „Und die Lehrerin stand daneben und hat nichts gesagt.“ Judith Neuwald-Tasbach von der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen berichtete vom Besuch einer Schulklasse. Die Vorab-Nachfrage, ob es an ihrer Schule Antisemitismus gebe, hatte die Lehrerin verneint. Neuwald-Tasbach fragte dann vor Ort die Schülerinnen und Schüler selbst, ob an der Schule schon mal Jugendliche den Hitlergruß zeigten. „Die Antwort war: Das ist bei uns üblich. Und die Lehrerin beeilte sich zu sagen: Aber nur ab und zu, Frau Neuwald.“

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Die Angst in den Familien ist nicht zu beschreiben und frisst fast alles auf
Michael Anger, Leiter des jüdischen Gymnasiums in Düsseldorf

Michael Anger leitet in Düsseldorf das einzige jüdische Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Vor dem 7. Oktober habe die Schule noch Begegnungsprojekte mit muslimischen Jugendlichen gemacht. „Das ist nicht mehr denkbar. Die Angst in den Familien ist nicht zu beschreiben und frisst fast alles auf.“ Exkursionen gebe es keine mehr. Die Schüler führen nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern würden von den Eltern zur Schule gebracht.

An öffentlichen Schulen sei die Angst noch massiver. „Jüdische Eltern schreiben mir, dass sie sich nicht mehr trauen, ihre Kinder in die Schule zu schicken“, erzählte Karim Fareidooni, Didaktik-Professor mit Forschungsschwerpunkt Rassismuskritik an der Ruhruni Bochum. Es gebe jüdische Kinder im Distanzunterricht. Sinnbildlich für die Unsicherheit der Lehrkräfte stehe die Mail eines Schulleiters, der seinen Lehrkräften verbot, im Unterricht über den Nahost-Konflikt zu sprechen.

Das Kernproblem sei, dass Antisemitismus und Holocaust-Erziehung in der Ausbildung bislang keine Rolle spiele, sagte Fereidooni, der selbst Lehrkräftefortbildungen macht und 50 Handlungsempfehlungen für Lehrkräfte zum Nahost-Konflikt herausgegeben hat.

Alle Experten in der Runde forderten, das Thema in die Lehrkräfteausbildung zu integrieren. Mohr forderte zudem die Stärkung von Medien- und Social-Media-Kompetenz, um Fake News zu erkennen. „Es ist überwältigend, was dort gepostet wird.“ Außerdem sei notwendig, den Schulen einen gezielten Katalog für Ordnungsmaßnahmen an die Hand zu geben.

Die FDP, die die Anhörung anberaumt hatte, plädierte für ein Konzept zum systematischen Vorgehen gegen Antisemitismus in Schulen. In ihrem Antrag forderte sie die Landesregierung auf, in NRW eine zentrale Bildungsstätte zu errichten. Dort solle jede Lehrkraft in der Ausbildung geschult werden, um Antisemitismus, Rassismus, Hass und Gewalt entgegentreten zu können. Zudem müssten Schulleitungen in die Lage versetzt werden, bei antisemitischen Vorfällen disziplinarische Maßnahmen konsequent auch gegen Widerstände aus Schüler- und Elternschaft anzuwenden.

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