Pro und ContraIst Streiken während Corona unsolidarisch?

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Streik KVB

Hier geht und fährt nichts nichts mehr.

  • Die Bahnen stehen still, die Kitas schließen die Türen und die Menschen fluchen. Als hätten sie gerade nicht schon genug Probleme.
  • Geht Streiken in Krisenzeiten zu weit? Oder muss sich der Rest der Bevölkerung einfach mal zusammenreißen?
  • Claudia Lehnen und Thorsten Breitkopf diskutieren.

Maskenpflicht, Reiseverbote, Einschränkungen überall im Alltag machen uns seit Monaten das  Leben schwer. Müssen da die Gewerkschaften noch einen draufsetzen und zu massiven Streiks –  z.B. in Kitas und im öffentlichen Nahverkehr – aufrufen? Claudia Lehnen, Leiterin der Redaktion Story/NRW und Thorsten Breitkopf, Leiter der Wirtschaftsredaktion, diskutieren.

Wer jetzt streikt, hat die Chance, etwas zu ändern

Glauben Sie nicht, dass ich nicht fluche. Die Tochter will zur Freundin, muss zum Arzt und „dringend“ zur Drogerie. Während Transporte dieser Art sonst die KVB erledigt, wird an Streiktagen nach dem Fortbewegungsmittel Muttertaxi verlangt. Und dass unser Dreijähriger in den Kindergarten darf, haben wir nur den Erzieherinnen dort zu verdanken, die bislang netterweise auf ihr Streikrecht verzichtet haben.  Streiktage sind anstrengende Tage, Streik trifft, tut weh, bringt dem Rest der Bevölkerung Stress, nervt, keine Frage.

Und doch: Ist das nicht gerade  der Sinn von Streik? Ein Randalierer zu sein? Ein Ruhestörer, der die schön bequeme Ordnung durcheinander wirbelt? Weil diese Ordnung eben nicht für alle Beteiligten so schön bequem ist? Wer jetzt sagt, dass natürlich jeder streiken dürfe, aber doch bitte nicht gerade jetzt, wo es so weh tut, der engagiert sich wahrscheinlich auch für Versicherungen und sagt Sätze wie: Natürlich zahlen wir im Krankheitsfall. Aber doch nicht, wenn Sie wirklich krank sind.

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Das Virus traf uns mit einer Wucht, die nicht nur unsere persönliche Gesundheit in Frage stellte. Je mehr sich der Staub des ersten Einschlags legt,  umso deutlicher zeigt sich, dass Arbeit und Geld alles andere als gerecht verteilt sind in unserem Land. Dass das Paradigma nicht mehr stimmt. Dass die Arbeit desjenigen, der sich um Menschen kümmert qua Lohnzettel weniger Wert ist als die von demjenigen, der sich für einen Job in der Finanzbranche entschieden hat. Da sind Mütter, die neben dem Vollzeitjob „Betreuen, Ernähren, Tränen trocknen“  im Niedriglohnsektor erwerbstätig sind.

Da sind Pflegerinnen und Pfleger, die Fieber messen und das Beatmungsgerät bedienen und dafür so wenig Geld bekommen, dass sie lieber in der Industrie arbeiten. Da sind Reinigungskräfte, die  das Virus in Schach halten und dafür derzeit mit 10,80 Euro brutto nach Hause gehen.   Arbeitgeberverbände, die in so einer Phase darauf spekulieren, dass die Gewerkschaften schon die Füße stillhalten werden, gehören zu Recht eines Besseren belehrt. Wer jetzt streikt, erreicht  vielleicht mehr als ein Plus von einsfünfzig in der Stunde. Er hat die Chance, wirklich etwas zu ändern.

Claudia Lehnen

Streiken in dieser Krise ist höchst unsolidarisch

Streiken ist für Arbeitnehmer ein Grundrecht. Dieses Recht ist  hart erkämpft und ohne Zweifel schützenswert.  Der Gesetzgeber hat erkannt, dass zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein gewaltiges Machtgefälle existiert. Deswegen dürfen sich die per se schwächeren Arbeitnehmer zu einer Art Kartell – der Gewerkschaft –  zusammenschließen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Getreu dem Arbeitermotto „Alle Räder stehen still, wenn ein starker Arm es will“ wurden  so der Acht-Stunden-Tag, die Fünf-Tage-Woche  und viele andere Errungenschaften erkämpft, ohne die wir uns unser Land  nicht vorstellen wollen.

Grundsätzlich also kann ein Streik etwas Gutes an sich haben. Doch der aktuelle Streik im Öffentlichen Dienst kommt zur Unzeit. Die Menschen befinden sich seit zehn Monaten in einer nicht dagewesenen Dauerkrise. Die ganze Welt ist gezwungen, das öffentliche und private Leben  radikal   einzuschränken. Maskenpflicht, Sperrstunde, Mindestabstand, Firmen-Schließungen, Einstellung des Kulturbetriebs – und Einsamkeit für viele.

Angesichts dieser Lage ist ein Streik dieses Ausmaßes eine Zumutung für die Menschen, die mit Mühe und Not ihren Alltag meistern, ihren Mut trotz irrsinniger Einschränkungen nicht verlieren. Die Arbeitskämpfer von Verdi sollten beachten, dass die Menschen mental teils am Ende sind. Das Gegenargument, dass man stets dann streiken sollte, wenn es die Gegenseite auch mit Härte trifft, zieht im Oktober 2020 nicht. Die Konsequenzen des Streiks treffen gerade die, denen es besonders schlecht geht: Eltern, Alte, Sozialschwache, Schüler.

Natürlich haben die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst Beachtliches geleistet, um die Krise einzudämmen. Aber sie haben auch vergleichsweise sichere Jobs. Was sagen sie jenen Menschen, die in der Gastronomie arbeiten und um die wirtschaftliche Existenz ihrerselbst und ihrer Arbeitgeber bangen –  oder in Theatern, bei Messefirmen, in der Eventbranche tätig sind. Sie können nicht streiken, und werden womöglich ihren Job verlieren.

In dieser Krise sind Viele auf die Hilfe des Staates angewiesen. Dieser Arbeitskampf  darf nicht zu einem Umverteilungskampf werden.

Thorsten Breitkopf

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