„Sozialer Skandal“Kölner Politologe fordert Milliarden-Hilfen gegen Verelendung

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Not und Armut nehmen auch im Kölner Stadtbild sichtbar zu. 

  • Der Kölner Politologe Christoph Butterwegge hat ein neues Buch geschrieben.
  • In „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ beklagt er eine Tendenz zur Verelendung – und fordert Milliarden gegen soziale Spaltung.
  • Lesen Sie hier das ausführliche Interview.

Herr Professor Butterwegge, als die Pandemie vor zwei Jahren noch relativ frisch war, prognostizierten einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Deutschland werde als Gesellschaft gestärkt daraus hervorgehen. Wie lautet Ihr Fazit? Christoph Butterwegge: Wäre Deutschland gestärkt aus der Pandemie hervorgegangen, müsste es zumindest auch denen besser gehen, die schon vorher am Boden waren, zum Beispiel Wohnungs- und Obdachlosen. Für diese Menschen ist vom Staat aber so gut wie nichts getan worden, was bei ihnen eine Tendenz zur Verelendung begünstigte. Im Gegensatz dazu ist das Vermögen von Lidl- und Kaufland-Inhaber Dieter Schwarz laut dem US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ während der Pandemie um 7,5 Milliarden Dollar auf 45,5 Milliarden gestiegen.

Wie war das möglich?

Ganz einfach: Von den 600.000 Menschen, die in Deutschland ihren Minijob verloren, hatten 400000 nur diesen. Wer arbeitslos, Kurzarbeiter oder Geringverdiener ist, muss sich im Discounter versorgen. Arme finanzieren so den Reichtum von Multimilliardären, ganz konkret. Das schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährdet womöglich die Demokratie.

Als damaliger Finanzminister setzte Olaf Scholz eine „Milliarden-Bazooka“ für Hilfen ein. Traf die nicht die Richtigen?

Nur zum Teil. Die Finanzhilfen des Bundes hatten eine verteilungspolitische Schieflage. Es war zwar richtig, kriselnde Unternehmen mit Steuergeldern zu stützen, um Arbeitsplätze zu erhalten. Man kann aber darüber streiten, ob Konzerne wie TUI, Lufthansa oder Galeria Karstadt Kaufhof nicht auch ohne Hilfe aus dem bereits im März 2020 mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro aufgelegten Wirtschaftsstabilisierungsfonds über die Runden gekommen wären. Die von der Pandemie am härtesten Getroffenen, also Wohnungs- und Obdachlose, Geflüchtete, Werkvertragsarbeiter, Menschen mit Behinderungen, Transferleistungsbezieher und Rentnerinnen, erhielten aber so gut wie nichts. Es dauerte rund 14 Monate, bis ein Hartz-IV-Bezieher im Mai 2021 eine Zahlung von 150 Euro erhielt. Obdachlose, die Ärmsten der Armen, bekamen gar nichts und hatten Glück, wenn die Notunterkunft im ersten Lockdown nicht sofort schloss. Das halte ich für einen sozialen Skandal.

Zur Person

Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Armutsforscher. Von 1998 bis 2016 lehrte der Professor an der Universität zu Köln. 2017 kandidierte er für das Amt des Bundespräsidenten.

Sein neues Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ (Verlag Beltz Juventa) stellt Christoph Butterwegge am nächsten Dienstag, 31. Mai, um 19.30 Uhr in Köln vor. Der andere Buchladen, Weyertal 32, 50937 Köln-Sülz.

Immerhin steigt der Mindestlohn auf zwölf Euro.

Das ist ein Meilenstein im Kampf gegen die Armut, wenngleich der Zuwachs gegenüber dem September 2017, als die SPD diesen Vorschlag nach einer verlorenen Bundestagswahl machte, erheblich geringer ausfällt und der Betrag aufgrund inzwischen stark gestiegener Verbraucherpreise auch viel weniger wert ist als fünf Jahre zuvor. Selbst in Vollzeit kommt man damit nicht aus der Armutsrisikozone heraus.

Kann das angekündigte Bürgergeld gegen Armut helfen?

Ja, aber nur, wenn man die Sätze des Regelbedarfs erhöht und dem Arbeitslosengeld II nicht bloß einen schöneren Namen gibt. Anfang dieses Jahres bekam ein Alleinstehender im Hartz-IV-Bezug gerade mal drei Euro mehr, 449 statt 446 Euro. Um sich ausgewogen und abwechslungsreich zu ernähren, benötigen Erwachsene jedoch mehr Geld als die im Regelbedarf hierfür enthaltenen 5 Euro täglich. Da die Inflationsrate seinerzeit bereits viel höher war als die Anhebung des Regelbedarfs um 0,67 Prozent, sind die von Transferleistungen abhängigen Armen 2022 noch ärmer als 2021 – auch ihre Kinder, bei denen die Erhöhung ebenfalls unter einem Prozent blieb.

Was schlagen Sie vor?

Es wäre ein Fortschritt, wenn Minderjährige im Zuge der von SPD, Grünen und FDP geplanten Kindergrundsicherung aus Hartz IV herausgeholt würden, weil sie da nicht reingehören. Entscheidend ist aber neben einer ausreichenden Höhe des Zahlbetrages, ob der steuerliche Kinderfreibetrag in die Neuregelung einbezogen wird. Unterlässt das die Koalition, wie zu vermuten ist, bleibt der Nachwuchs von Spitzenverdienern dem Staat mehr wert als der von Normalverdienern. Kinder erster und zweiter Klasse kann sich Deutschland aber nicht leisten, sondern es geht darum, alle gleichzustellen und ihre Bildungschancen anzugleichen.

Was würden Sie eigentlich mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro machen, wie es für die Bundeswehr vorgesehen ist?

Vorab: Ich halte es für gänzlich unangebracht, diese gigantische Summe zusätzlich für Rüstung auszugeben, denn Hochrüstung bringt nicht mehr Sicherheit, auch dann nicht, wenn sie im Grundgesetz verankert wird. An vielen Stellen fehlt Geld, das der Staat auch nicht über höhere Steuern refinanziert. Womöglich müssen sogar die Armen für die geplante Fehlinvestition bluten. Ich würde mir stattdessen ein Sondervermögen wünschen, um die sozialen Probleme, Spaltungen und Spannungen zu bewältigen, welche die Covid-19-Pandemie sichtbar gemacht und verschärft hat. Also: Bekämpfung von Kinder- und Altersarmut, von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sowie Verbesserung der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. Auf diesen Feldern wären 100 Milliarden Euro sinnvoller verwendet.

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