Sinnkrise der Miss LibertyWie der Freiheitsbegriff die Spaltung der US-Gesellschaft dokumentiert

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New York: Der Vollmond geht hinter der Freiheitsstatue auf. (Archivbild)

Eine „Freiheit, die die Welt erleuchtet“, verspricht die monumentale Statue of Liberty, die Freiheitsstatue, den Ankommenden im New Yorker Hafen. (Archivbild)

Kaum irgendwo zeigt sich die Zerrissenheit der US-Gesellschaft so dramatisch wie bei der Auslegung des amerikanischen Freiheitsideals. Sowohl Joe Biden als auch Donald Trump berufen sich darauf.

Der Mann ist hochgradig korrupt und schon längst nicht mehr zurechnungsfähig. Seine Familie hat sich skandalös am Amt bereichert. Er wird mit allen Mitteln um das Weiße Haus kämpfen. Seine Wahl im nächsten November wäre eine Schicksalsstunde für die amerikanische Demokratie und eine Katastrophe für die ganze Welt.

Es klingt paradox, doch wahrscheinlich würden die meisten Amerikaner dieser Warnung zustimmen – bloß hätten sie dabei zwei völlig unterschiedliche Personen im Kopf: Donald Trump die einen und Joe Biden die anderen. So dramatisch hat sich der öffentliche Diskurs in den USA von den Fakten entfernt und so extrem ist die Polarisierung fortgeschritten, dass gegensätzliche Sichtweisen inzwischen kaum noch zu entwirren sind und Begriffen oft wechselnde oder gar konträre Inhalte zugesprochen werden. Dieselben Leute, die lautstark die „Cancel Culture“ und das Diktat der linken Political Correctness an den Hochschulen anprangern, verbannen derweil Bücher aus Schulbibliotheken.

Es gibt nichts Wichtigeres als die persönliche Freiheit.
Joe Biden, US-Präsident

Kaum irgendwo zeigt sich das Auseinanderdriften des Landes so dramatisch wie beim Kampf um die Freiheit. Die Freiheit gehört zur DNA der USA seit der Trennung der einstigen Kolonien vom britischen Mutterland. Eine „Freiheit, die die Welt erleuchtet“, verspricht die monumentale Statue of Liberty, die Freiheitsstatue, den Ankommenden im New Yorker Hafen. Die Freiheit ist in der Verfassung festgeschrieben und verbindet sich bis in die Film- und Popkultur untrennbar mit dem Mythos des Riesenlandes. Doch eine Verständigung über ihre Bedeutung ist kaum noch möglich.

Alles zum Thema Nahostkonflikt

„Es gibt nichts Wichtigeres als die persönliche Freiheit“, leitete Präsident Biden vor einigen Monaten seine Bewerbung um eine Wiederwahl ein und warnte, die „Extremisten“ der MAGA („Make America Great Again“)-Bewegung würden dieses Grundrecht bedrohen. „Sie wollen mir meine Freiheit nehmen, denn ich werde niemals zulassen, dass sie Euch Eure Freiheit nehmen“, wütet hingegen Herausforderer Trump auf seiner Propagandaplattform „Truth Social“.

In seinem Buch „Traum und Albtraum. Amerika und die vielen Gesichter der Freiheit“ unternimmt der Journalist Julian Heißler den Versuch einer Zustandsbeschreibung der zerrissenen US-Gesellschaft. Er beschreibt dabei die Lage entlang der um diesen universellen Wert brodelnden Konflikte von der Zuwanderung über Impfmandate und das Waffenrecht bis zur Außenpolitik. Dort droht die einstige, fragwürdige „Freedom Agenda“ des ehemaligen Präsidenten George W. Bush bei den Republikanern nun ins andere Extrem, in den Isolationismus, umzuschlagen.

Kenntnisreich und mit beachtlichem historischen Hintergrundwissen beleuchtet Heißler die einzelnen Schlachtfelder der aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen der USA. Doch bleibt er nicht in der trockenen Analyse stecken. Der Autor, der als Korrespondent der „Wirtschaftswoche“ in Washington arbeitet, belebt jedes Kapitel mit reportagehaften Schilderungen von Begegnungen während seiner Reisen im Land. So trifft er den konservativen Hardliner und Ex-Gouverneur des Bundesstaates Virginia, in dessen Amtszeit 24 Männer hingerichtet wurden, und kontrastiert ihn mit einer Bezirksstaatsanwältin in Kalifornien, die für Gewaltprävention und Rehabilitierung kämpft. Er nimmt die Leser mit auf einen Schießstand und lässt eine junge Frau, die das Schulmassaker von Parkland überlebt hat, von ihrem Trauma berichten. Er porträtiert einen Naturschützer in Idaho, der gegen den Phosphatabbau kämpft, und einen Rancher in Texas, der mit dem Klonen von Hirschen zu Reichtum gekommen ist.

Entwicklung der Meinungs- und Redefreiheit

Das vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts aktuellste und wohl spannendste Kapitel des Buches befasst sich mit der Meinungs- und Redefreiheit. Auf nicht einmal 30 Seiten schafft es der Autor mit Hilfe dreier interessanter Protagonisten, die Problematik eindringlich auszubreiten. Er spricht mit Ira Glasser, dem langjährigen (jüdischen) Chef der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU). 1977 verteidigte Glasser das Demonstrationsrecht von Neonazis in einem Dorf mit zahlreichen Holocaust-Überlebenden.

Und auch als heute 85-Jähriger will er keine Einschränkungen des Rechts auf Meinungsäußerung akzeptieren. Heißler schildert die Entwicklung des Regisseurs Brian Clowdus, der sich zu unrecht wegen angeblich rassistischer Bemerkungen gecancelt fühlte und zum rechten Trump-Anhänger radikalisierte. Und er besucht die vielfach ausgezeichnete Autorin Ellen Hopkins, deren Bücher wegen ihrer ungeschönten Schilderung von Drogen, Gewalt und Sex inzwischen aus vielen Bibliotheken in den USA verbannt sind.

Mutmachender Ausblick

Die Fülle der Zeitzeugen, die Heißler interviewt hat und in seinem Buch zu Wort kommen lässt, ist beeindruckend. Alleine in dem relativ kurzen Kapitel „Freie Welt“ kommen mit James Jones, John Bolton, Chuck Hagel und Leon Panetta vier Toppolitiker zu Wort, die als Sicherheitsberater oder Verteidigungsminister die Außenpolitik der USA entscheidend geprägt haben. Manchmal zwingt die schiere Menge der Protagonisten zur Verdichtung, und die Begegnungen werden nur skizziert. Einige Themen wie der Abtreibungsstreit und die soziale Ungleichheit werden zudem relativ knapp abgehandelt. Aber das sind wohl unvermeidliche Kompromisse, wenn man ein so weites Feld wie die Freiheit auf kaum mehr als 200 Seiten bestens lesbar vermessen will.

Heißler beendet sein Buch mit einem mutmachenden Ausblick. Bislang hätten die Vereinigten Staaten in ihrer fast 250-jährigen Geschichte noch jede Krise überstanden, schreibt er. Trotz aller Probleme seien sie heute „ein offeneres, inklusiveres und – ja – freieres Land als vor 50 Jahren“. Man kann nur hoffen, dass er diese Einschätzung in künftigen Auflagen nach dem Wahltag am 5. November 2024 nicht revidieren muss.


Julian Heißler: „Traum und Albtraum. Amerika und die vielen Gesichter der Freiheit“. Herder Verlag. 240 Seiten, 22 Euro

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