Ministerin und SPD-KandidatinWie Nancy Faeser den Spagat zwischen Berlin und Hessen wagt

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FILE - German Interior Minister Nancy Faeser briefs the media after the cabinet meeting of the German government in Berlin, Germany, on Aug. 23, 2023. Germany's top security official says she hopes prosecutors will find sufficent evidence to indict whoever carried out last year's attack on the Nord Stream gas pipelines in the Baltic Sea. (AP Photo/Markus Schreiber, File)

Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist SPD-Spitzenkandidatin in Hessen

Wie geht Wahlkampf auf Landesebene, wenn man eigentlich schon in Berlin angekommen ist? Die Doppelrolle hat die Ministerin verändert.

Nancy Faeser will keine Spielverderberin sein. Die 53-Jährige weiß natürlich, dass der Test ihrer Sprungkraft im Vergleich zu der von Bobfahrerin und Olympiasiegerin Deborah Levi nur ein Spaß ist. Hier am Olympiastützpunkt in Frankfurt am Main springt die SPD-Politikerin aus dem Stand in die Höhe, Hände an der Hüfte. Kneifen geht nicht. Schließlich ist sie die Sportministerin. Mehr als doppelt so alt wie Levi kommt sie auf ein Drittel von deren Sprungkraft. Aber das Motto des Deutschen Olympischen Sportbundes gilt für beide: „Hier werden Medaillen gemacht.“

Hier in Hessen, wo Faeser als Spitzenkandidatin für die Landtagswahl am 8. Oktober antritt – und dem Olympischen Sportbund während einer Wahlkampftour einen Besuch abstattet. Im Kraftraum gab es kürzlich einen Wasserschaden, und die Decke der Turnhalle ist zu niedrig. Die Trampolinspringerinnen und -springer können mit den Händen die Decke berühren, wenn sie nicht aufpassen. Not macht erfinderisch. In der Mitte wurde eine Erhöhung geschaffen, in der man sich in eine Sprunghöhe von etwa zehn Metern schrauben kann. Besser wäre natürlich eine neue Halle, lässt man Faeser wissen.

Nancy Faeser will Landesmutter in Hessen werden

Aber Medaillen sind trotz mancher Widerstände möglich. Deborah Levi hat es geschafft. Und auch Faeser, Mutter eines neunjährigen Sohnes, will im Oktober Erste werden: nämlich Ministerpräsidentin, also die erste hessische Frau in dem Amt und so etwas wie eine Landesmutter. Bei jedem Termin, ob in Bürgergesprächen, bei Diskussionen mit Betriebsräten in einer ehemaligen Werkhalle des Autobauers Opel in Rüsselsheim oder bei Spitzensportlern, will sie alle spüren lassen: Ihre Leidenschaft ist Landespolitik. Bildungsfragen, Gesundheitspolitik, bezahlbarer Wohnraum, faire Löhne.

Sie sagt dann so etwas wie: „Opel ist für uns Herzblut.“ Der Autobauer und seine Fachkräfte gehörten zur Identität Hessens. Apropos Fachkräfte. Deutschland brauche Zuwanderer. Aber das bisherige Gesetz dafür sei ein „Einwanderungsverhinderungsgesetz“ gewesen. Viel zu bürokratisch. Das habe die Ampelkoalition gerade geändert. An der Willkommenskultur im Land müsse noch gearbeitet werden. Und in Hessen müsse endlich wieder Industriepolitik gemacht werden. „Das findet schlicht nicht statt.“

Opel ist für uns Herzblut
Nancy Faeser, Bundesinnenministerin und Spitzenkandidatin der SPD für das Ministerpräsidentenamt in Hessen

Es gebe auch ein „irres Defizit“ bei den Investitionen in junge Menschen. Last but not least fehlten Kita-Plätze, was die Frauenerwerbsquote niedrig halte. Für den neuen Streit der Bundesregierung um Kindergrundsicherung und Wachstumschancengesetz hat die Wahlkämpferin ein altes Sprichwort: „Wo gehobelt wird, da fallen Späne.“

Nancy Faeser: Immer zwei Bälle in der Luft

Ja, Nancy Faeser ist in diesen Tagen eine Art Politartistin. Sie hat, mindestens, zwei Bälle in der Luft, einen in Berlin – und einen in Wiesbaden.

Im Dezember 2021 holte Bundeskanzler Olaf Scholz die Juristin und ehemalige Rechtsanwältin einer großen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt am Main für viele völlig überraschend in sein Kabinett. Die Chance auf einen Machtwechsel in Hessen nach mehr als 20 Jahren CDU-Herrschaft erschien beiden größer, wenn sie einen Umweg über das hohe Amt der Bundesinnenministerin ginge und nicht Landespartei- und Fraktionsvorsitzende der SPD in Hessen bliebe. Der letzte Ministerpräsident der SPD in Hessen hieß Hans Eichel, das war in den 1990er-Jahren. Umso größer also der Druck, es erneut zu versuchen.

Faeser, deren Vater in Hessen schon engagiert Politik betrieb, beginnt fröhlich in Berlin, wie es ihre Art ist – und vorsichtig. In Grünen-Kreisen heißt es bald, sie kündige viel an, aber tue in Wahrheit wenig. Tatsächlich tut die Ministerin durchaus etwas. So stellt sie einen Aktionsplan zur Bekämpfung des Rechtsextremismus in Aussicht oder macht vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar klar, dass auch dort Menschenrechte zu gelten hätten. Ihr Auftritt mit „One Love“-Binde beim deutschen Auftaktspiel auf der Stadiontribüne hat fast etwas Ikonisches – und zeigt Faesers linksliberale Seite.

Ohnehin tritt ihr Haus dem Eindruck von Passivität entgegen. So habe der Bundestag die Gesetze zur Einführung eines Chancenaufenthaltsrechts bereits ebenso verabschiedet wie ein Gesetz zur Beschleunigung von Asylverfahren, heißt es zu Jahresbeginn. In der Pipeline seien ferner: das Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung, das Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts, die Verschärfung des Waffenrechts, das neue Bundespolizeigesetz sowie die Reform des Disziplinarrechts, um Extremisten schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernen zu können. Manche Gesetze sind immer noch in der Pipeline, andere nicht.

Nancy Fasers Imagewandel

Verändert hat sich unterdessen – ob zurecht oder zu Unrecht – Faesers Image. Das Image einer Frau, die zum Beispiel bei Treffen mit ukrainischen Geflüchteten oder anderen Menschen in schwierigen Lebenslagen sehr empathisch sein kann. Auf einmal wird Faeser in einem Atemzug mit ihrem Vorgänger Horst Seehofer (CSU) genannt. Oder der „Spiegel“ illustriert einen Text über das Wirken seiner Nachfolgerin mit einem Foto des letzten sozialdemokratischen Bundesinnenministers vor ihr: Otto Schily mit Polizeihelm und Schlagstock.

Faesers neuer restriktiver Kurs in der Migrationspolitik

Zufall ist das nicht. Unter dem Druck von Ländern und Kommunen ist Faeser in der Flüchtlings- und Migrationspolitik auf einen restriktiven Kurs umgeschwenkt. So betont sie immer öfter, dass Schluss sein müsse mit der irregulären Zuwanderung. Sie stimmt für die Einführung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), das Asylverfahren an den EU-Außengrenzen für Geflüchtete mit geringer Bleibeperspektive vorsieht – unter Einschluss von Familien mit Kindern.

Anfang August lässt die Bundesministerin des Inneren schließlich ein „Diskussionspapier“ veröffentlichen, das die Ausweisung von mutmaßlichen Clanmitgliedern auch für den Fall nahelegt, dass ihnen gar keine kriminellen Aktivitäten nachgewiesen werden können.

Nun muss sich die Sozialdemokratin Kritik gefallen lassen, unter anderem aus der eigenen Partei. Die Juso-Vorsitzende Jessica Rosenthal nennt das Gemeinsame Europäische Asylsystem „beschämend“. Grüne werfen der Ministerin hinter vorgehaltener Hand „Tricksereien“ vor. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) schäumt mit Blick auf das „Diskussionspapier“: „Würde die Bundesinnenministerin echte Fortschritte erzielen wollen, würde sie ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren in Gang bringen, statt Ideensammlungen auf einer Homepage zu veröffentlichen.“ Ein Gesetzgebungsverfahren ist nicht beabsichtigt.

Faeser gegen Faeser geht nicht

Es ist offen, was an Faesers scheinbar neuer Härte eigener Überzeugung entspringt und was davon Teil des Jobs und einer Wende in der SPD-Migrationspolitik ist – und was Wahlkampf. Fest steht, dass sie es schwerer hat als CDU-Ministerpräsident Boris Rhein. Sie kann nicht einfach auf die da oben in Berlin schimpfen. Dort oben ist sie ja selbst.

Faeser gegen Faeser geht nicht. So muss die Bundesinnenministerin für ihre Migrationspolitik oder den Ärger über die Ampelkoalition auch persönlich geradestehen und zugleich von Kassel bis Biblis jedes landespolitische Thema durchdeklinieren können. In einer Doppelrolle, in doppelter Schlagzahl, als Mitglied der Regierung von Olaf Scholz und als Hoffnungsträgerin der Sozialdemokraten in Hessen.

Nancy Faeser kann viel einstecken

Fest steht ebenso, dass Faeser physisch wie psychisch robust ist. Sie reiht seit Wochen Termin an Termin. An einem Samstagmorgen, wo Zeit zum Durchschnaufen wäre, stellt sie sich beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung Bürgerfragen. Und sie kann einstecken, viel einstecken. Wo andere auf Kritik gereizt reagieren, hat Faeser – nicht immer, aber oft – noch ein Lächeln übrig.

Wie es weitergeht? Das weiß kein Mensch, auch die wahlkämpfende Ministerin nicht. Wenn Faeser die Landtagswahl am 8. Oktober verlieren sollte, dann würde sie in Berlin bleiben. 2023 wieder das zu werden, was sie bis 2021 war, SPD-Fraktionsvorsitzende im Hessischen Landtag, ist verständlicherweise keine wirkliche Option für eine Politikerin, die mit einigem Erfolg einen vorderen Posten in der Bundesregierung bekleidet.

Auch müsste der Kanzler im Falle einer Rückkehr Faesers nach Hessen das nächste Personalproblem lösen – eine Nachfolgerin zu benennen. Nach dem Rücktritt von Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin warf Scholz schließlich mit Boris Pistorius die Parität im Kabinett über den Haufen. Auf Faeser könne zwar SPD-Chefin Saskia Esken folgen, verlautet aus Parteikreisen, doch so recht glücklich wäre mit der Lösung wohl niemand.

Die CDU liegt in Hessen vorn

Ob Faeser verliert, entscheidet sich womöglich gar nicht am Wahlabend, sondern in den Tagen und Wochen darauf. Denn auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass die Hessen-SPD die in Umfragen deutlich vorn liegende CDU noch überholt: Eine Ampelkoalition mit Grünen und Liberalen ist nicht völlig ausgeschlossen – mit Faeser an der Spitze.

Viel hinge davon ab, wie sich Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir, der selbst Ministerpräsident werden möchte, nach dem Wahltag verhält – und die FDP natürlich. Das Verhältnis Al-Wazirs zu Rhein ist weniger eng, als es sein Verhältnis zu Rheins Vorgänger Volker Bouffier war. Und Faeser bringt aus Berlin zweifellos mehr politisches Gewicht mit als der amtierende Regierungschef.

Bis zu den Stunden der Entscheidung bewegt sich die Bundesinnenministerin, die eines der wichtigsten und größten Ressorts führt, in einem Minenfeld von gegensätzlichen Interessen und unterschiedlichen Meinungen. Dies, und sei es nur zeitweilig, mit einer Spitzenkandidatur zu kombinieren ist eine maximale Herausforderung mit Risiken zu beiden Seiten, in Wiesbaden und Berlin.

Nancy Faeser wirkt indes nicht so, als würde ihr das größere Probleme bereiten. Dafür verwahrt sie sich umso entschiedener gegen den Verdacht, politisch eine andere, sprich von einer Linksliberalen zu einer Hardlinerin geworden zu sein. „Ich komme nicht von einer Juso-Karriere“, sagt die Ministerin, als sie am Mittwoch in der Bundespressekonferenz das neue Staatsangehörigkeitsrecht präsentiert, sondern aus der Kommunalpolitik – und sei stets ausgewogen gewesen.

Dann plädiert Faeser für Gelassenheit und tut, was sie oft und gern tut. Sie lacht.

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