Feiern in der PandemieSollen wir dieses Jahr lieber auf Weihnachten verzichten?

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Corona wird auch das diesjährige Weihnachtsfest verändern.

  • Weihnachten feiern wir traditionell mit der großen Familie – aber das wird in diesem Jahr vermutlich nicht möglich sein
  • Sollten wir da nicht lieber gleich auf das Fest verzichten?
  • Psychologin Claudia Hesse erklärt, warum Weihnachten wichtig für uns ist – und warum wir uns jetzt schon Gedanken darüber machen sollten

Frau Hesse, viele zerbrechen sich jetzt schon den Kopf darüber, wie sie in diesem Jahr Weihnachten feiern könnten. Warum machen die Menschen das? Claudia Hesse: Dass viele Menschen bereits jetzt dem Weihnachtsfest beunruhigt entgegenblicken, hängt mit der Ungewissheit zusammen, welche Corona-Schutzmaßnahmen an Weihnachten gelten werden und wie sich die Situation insgesamt bis Ende Dezember entwickeln wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Maßnahmen bei hohen Infektionszahlen relativ streng bleiben und Kontaktbeschränkungen weiterhin bestehen. In der Folge können wir vielleicht nicht im gewohnten Kreis unserer Lieben Weihnachten feiern. Das Besondere an Weihnachten ist jedoch, durch gemeinsame Rituale die Festtage zu bereichern. Das Vertraute gibt uns Sicherheit. Auf der einen Seite sehnen wir uns nach einem feierlichen Weihnachten in Gemeinschaft, auf der anderen Seite schränken uns möglicherweise die Corona-Vorgaben ein. Fragen wie: „Ist der Kirchgang mit der Familie möglich? Wie groß darf die Gruppe sein, in der wir feiern? Können wir überhaupt zu der Familie reisen?“ führen zu Verunsicherung und wir ahnen, dass Weihnachten schmerzhaft für uns werden könnte.

Wäre es denn nicht sinnvoller, abzuwarten, wie die Maßnahmen sich entwickeln und dann kurzfristig Pläne zu schmieden?

Es ist sicherlich sinnvoll und wichtig, sich nicht den Kopf zu zerbrechen und in Katastrophen zu denken. Wenn man allerdings alles auf sich zukommen lässt, kann man möglicherweise kurz vor Weihnachten keine guten Alternativlösungen mehr entwickeln, wie beispielsweise die von dem Virologen Christian Drosten vorgeschlagene freiwillige Quarantäne eine Woche vor Weihnachten. Mit dieser Vorquarantäne kann man die Infektionsgefahr verringern und mit einem besseren Gefühl gemeinsam mit der Familie feiern. So etwas sollte aber geplant sein und gegebenenfalls vorab mit dem Arbeitgeber abgestimmt werden.

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Nun ist es ja so, dass nicht jeder im Homeoffice arbeiten kann:  Mitarbeiter aus dem Einzelhandel, Pflegekräfte und viele andere werden bis Heiligabend Kontakt zu anderen Menschen haben…

Genau, solche Aspekte sollte man im Vorfeld abwägen und schauen, ob die Vorquarantäne überhaupt ein realistisches Modell ist. Falls sie nicht realisierbar sein sollte, kann ich andere Modelle entwickeln, um das Fest möglichst gut zu verbringen. Zum Beispiel könnte man in kleineren Gruppen feiern und die Feierlichkeiten auf mehrere Tage ausdehnen oder gestaffelte Besuchszeiten einplanen.

Die Psychologin

Claudia Hesse

Claudia Hesse

Claudia Hesse (46) ist Psychologische Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Köln. Sie arbeitet zudem als Dozentin, Lehrtherapeutin und Supervisorin. (Foto: Chris Feith)

Was macht es denn eigentlich mit uns, nicht zu wissen, was in zwei Monaten ist?

Die wachsende Unsicherheit, verbunden mit dem Gefühl, keinen Einfluss auf diverse Geschehnisse und relevante Entscheidungen zu haben, ist für viele – insbesondere in einem Dauerzustand – sehr belastend. Wir sehnen uns nach Sicherheit und Zuversicht, und diese ungewisse Situation löst bei sehr vielen Menschen verständlicherweise Ängste und depressive Reaktionen aus.

Warum ist Weihnachten denn überhaupt so wichtig? Der religiöse Hintergrund spielt für einige ja gar keine Rolle mehr.

Weihnachten ist mit vielen Ritualen verbunden, die sich in unserem christlichen Kulturraum über Jahrhunderte etabliert haben. Wir brauchen Rituale, sie stärken uns, indem sie sowohl Verbundenheit und Struktur schaffen als auch das Glücksempfinden und die Zufriedenheit steigern. Auch losgelöst vom christlichen Glauben haben wir gelernt: Weihnachten ist das Fest der Liebe und Besinnlichkeit. Dieses Fest verbringen wir mit den Menschen, die uns besonders am Herzen liegen und uns sehr vertraut sind. Weihnachtsbräuche, die wir seit der Kindheit kennen, stärken unser Zusammengehörigkeitsgefühl: dazu zählt das gemeinsame Schmücken des Weihnachtsbaums ebenso wie das Weihnachtsessen oder das Liedersingen. Deswegen erfüllt Weihnachten unser Bedürfnis nach Solidarität und Verbundenheit. Wir sollten versuchen, auch in diesem Jahr an Weihnachten ein Zusammengehörigkeitsgefühl trotz möglicher Einschränkungen herzustellen.

Ich stelle mir gerade vor, wie ich im Wohnzimmer mit meiner Familie sitze, wir Abstand halten, Masken tragen und ständig lüften. Wie soll denn da eine feierliche Stimmung aufkommen?

Ihre Einstellung, mit der Sie dem Weihnachtsfest begegnen, ist ein ganz wichtiger Punkt. Sie können Ihren Fokus auf all das richten, was fehlt, was anders und unbequem ist, wie beispielsweise das Tragen von Masken oder das ständige Lüften. Sie haben aber auch die Möglichkeit, sich auf die positiven Aspekte zu konzentrieren und zu sehen, dass Sie ein individuelles Modell für sich und Ihre Lieben gefunden haben und die schönen Momente genießen – in dem Bewusstsein, dass wir durch unseren verantwortungsvollen Umgang mit der Situation das Infektionsrisiko senken und hoffentlich im nächsten Jahr Weihnachten wieder so feiern können, wie wir es gewohnt sind. Hilfreich ist es daher auch, die Einschränkungen als Schutzmaßnahmen einzuordnen und nicht als Begrenzung der Autonomie. Akzeptanz und Flexibilität sind hier sicherlich Schlüsselworte, um das Weihnachtsfest trotz der schwierigen Situation mit Genuss und Freude feiern zu können.

Dann lassen Sie uns doch mal konkret werden: Welche Zutaten braucht ein gelungenes Weihnachtsfest – und welche können wir trotz Corona haben?

Das bereits erwähnte Zugehörigkeitsgefühl kann beispielsweise auch aufkommen, wenn ich „nur“ mit meiner Kernfamilie die Festtage verbringe. Für das Gemeinschaftsgefühl haben die Kirchen bereits innovative Konzepte angekündigt, etwa Outdoor-Gottesdienste oder Live-Streams. Auch ritualstiftende Elemente wie der Weihnachtsbaum, Weihnachtslieder, Geschenke, vertraute weihnachtliche Gerichte können die Festtage bereichern. Für manche mag auch das Nutzen digitaler Lösungen wie Videochats geeignet sein, um sich verbunden zu fühlen. Lange Weihnachtsspaziergänge, gerne auch mit Thermoskanne und Weihnachtsgebäck, können eine Möglichkeit sein, mehrere Menschen an der frischen Luft zu sehen. Auch die Adventszeit können wir bereits nutzen, um unserer Verbundenheit zu anderen Ausdruck zu verleihen: Den Menschen, die wir in diesem Jahr an Weihnachten nicht sehen, können wir beispielsweise einen Adventskalender basteln oder einen Brief schreiben. Es gibt Möglichkeiten, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken, auch ohne ein gemeinsames Weihnachtsessen.

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Weihnachtliche Elemente wie den Tannenbaum können wir auch in Coronazeiten haben.

Apropos: Viele Familien reisen sonst durch halb Deutschland, um an Weihnachten mit der Familie zusammen sein zu können. Je nachdem, wie die Lage sich entwickelt, ist das in diesem Jahr überhaupt nicht möglich.

Das stimmt. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich bereits jetzt mit der Vorstellung an ein „anderes Weihnachten“ auseinanderzusetzen. Sich bereits jetzt mit unterschiedlichen Szenarien zu befassen, ist wie in der Ausgangsfrage erläutert, sicherlich hilfreich.

Aber das versetzt einen doch in eine total schlechte Stimmung, wenn man sich jetzt schon damit befasst. Sollte man nicht lieber positiv bleiben und hoffen, dass alles gut geht?

Ich denke auch, dass wir unbedingt positiv bleiben sollten. Wenn wir aber zusätzlich bereits jetzt in verschiedenen Optionen denken, haben wir eine bessere Chance, mit der Situation – wie auch immer sie in ein paar Wochen sein mag – flexibel umzugehen und uns leichter anzupassen. Dadurch wird das Risiko der Enttäuschung geringer, die sehr wahrscheinlich entstehen würde, wenn ich mich nur auf ein Szenario gedanklich einstelle und dieses dann kurzfristig nicht realisierbar ist. Habe ich verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl, fühle ich mich zudem weniger machtlos und habe eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung, die mich stärkt.

Also plädieren Sie generell dafür, nicht nur einen Plan A zu haben, sondern auch noch Plan B und C.

Genau. Die Flexibilität im Denken und damit einhergehend unsere Anpassungsfähigkeit stärken unsere Resilienz, die psychische Widerstandsfähigkeit. Diese ist in Krisen-Situationen wie wir sie aufgrund der Corona-Pandemie aktuell erleben, besonders wichtig. Residierte Personen sind eher in der Lage, Umstände, an denen man nichts ändern kann, gelassener anzunehmen und lösungsorientiert mit ihnen umzugehen.

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In jeder Familie wird es aber vermutlich einen geben, der sich besonders große Sorgen macht, dass das gewohnte Szenario nicht eintreten kann – wie reagiert man darauf als Familie?

Hier ist es wichtig, dem besorgten Familienmitglied aufmerksam und emphatisch zu begegnen und ihm zuzuhören anstatt die Gedanken des anderen direkt mit „Ja, aber“-Sätzen im Keim zu ersticken. Gemeinsam herausfinden, was dem anderen ein besseres Gefühl vermitteln könnte und sich mit anderen über die eigene Befindlichkeit auszutauschen, ist schon hilfreich. Insgesamt ist es jetzt besonders wichtig, mit anderen im Dialog zu bleiben und nicht die schwierigen Gedanken mit sich alleine auszumachen.

Nun haben wir die ganze Zeit so getan als wäre Weihnachten immer das schönste Fest der Liebe, tatsächlich gibt es aber gerade an Weihnachten oft Streitereien und auch der straffe Zeitplan stresst manche ganz schön. Ist es nicht auch entlastend, dieses Jahr mal nur mit der Kleinst-Familie zu feiern?

Ja, das ist sicherlich individuell verschieden, und manch einer wird es bestimmt auch als entlastend empfinden, keinen Besuchsmarathon vor sich zu haben. Auch die oft als stressig empfundene Einkaufsjagd auf Geschenke wird dieses Jahr vielleicht entspannter ablaufen, wenn wir uns rechtzeitig darum kümmern und somit dazu beitragen, dass die Fußgängerzonen während der Adventszeit nicht überfüllt sind.

Provokante Frage zum Schluss: Wäre es bei diesen ganzen Problemen nicht einfacher zu sagen: Gut, wir verzichten dieses Jahr mal auf Weihnachten?

Für einige mag das eine Option sein. Anderen, die das Weihnachtsfest stark mit einem christlichen Hintergrund verbinden, würde es sicherlich schwerfallen, auf das Weihnachtsfest komplett zu verzichten. Wenn der Glaube aber keine Rolle spielt, ist Ihre Idee bestimmt eine Überlegung wert. Ein Weihnachtsessen mit der Kernfamilie und eine größere Familienfeier im späten Frühjahr unter freiem Himmel könnte ein lösungsorientierter Ansatz sein. Diese Feier sollte bereits jetzt geplant und terminiert werden, damit wir uns darauf freuen können und wissen: aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

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