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Körperfett, Stress, digitale MedienWarum Kinder immer früher in die Pubertät kommen

Lesezeit 5 Minuten
Eine Gruppe Jugendlicher als Schattenrisse im Sonnenuntergang.

Jugendliche kommen immer früher in die Pubertät (Symbolbild).

Der Zeitpunkt, zu dem Kinder zu Erwachsenen heranreifen, rückt seit Jahrzehnten immer weiter nach vorn.

Wenn der Nachwuchs schon im Grundschulalter anfängt, alles infrage zu stellen, mit schwankenden Stimmungen kämpft oder erste körperliche Veränderungen zeigt, stellen sich manche Eltern die Frage: Waren wir selbst auch schon so früh dran? Tatsächlich kommen Kinder immer früher in die Pubertät: „Gerade für Mädchen ist das eindeutig belegbar“, sagt Felix Reschke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Endokrinologie. Startpunkt ist ihm zufolge bei Mädchen das Brustknospen-, bei Jungen das Hodenwachstum.

Gesteuert wird beides von den Hirnregionen Hypothalamus und Hypophyse, die Hormone an Hoden oder Eierstöcke senden. Erst später folgen die erste Menstruation oder der Stimmbruch. Die Behaarung an den Genitalien und in den Achselhöhlen wird überwiegend von anderen Hormonen gesteuert und weist daher nicht unbedingt darauf hin, dass die Pubertät einsetzt. „Schaut man auf die letzten Jahr­zehnte zurück, verschiebt sich der Beginn der weiblichen Pubertät um etwa drei Monate pro zehn Jahre nach vorn“, sagt Reschke. Bei Jungen, vermutet er, ist die Entwicklung weniger ausgeprägt. „Aber auch hier gibt es Hinweise, dass sich der Pubertätsbeginn nach vorn verlagert.“

Was ist normal?

Als normaler Zeitpunkt für den Pubertätsbeginn gelte bei Mädchen derzeit das Zeitfenster zwischen dem achten und 13. Geburtstag, bei Jungen zwischen 9,5 und 14 Jahren. Eine vorher einsetzende Pubertät, auch Pubertas praecox genannt, ist ein abklärungsbedürftiger Befund. „Durch die schrittweise Vorverlagerung des Pubertätsbeginns gibt es im Medizinbereich Überlegungen, den Bereich des Normalen ebenfalls nach vorn zu verlagern“, sagt Reschke. „Mit der bisherigen Definition kommt es immer mehr zu abklärungsbedürftigen Fällen, bei denen sich dann herausstellt: Das ist die normale Pubertät, die da einsetzt.“ Das verursache Verunsicherung bei den Familien.

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Ursachen für das Phänomen

Wann das Gehirn von Kindheit auf Pubertät umschaltet, hängt ab von genetischen Faktoren – aber auch vielen weiteren. Ein wichtiger Faktor ist Körperfett: „Kinder mit Übergewicht kommen früher in die Pubertät als Normalgewichtige, Kinder mit Untergewicht tendenziell später. Das liegt daran, dass das Fettgewebe selbst Hormone bildet, vor allem weibliche Sexualhormone“, sagt der Endokrinologe Reschke. Gerade durch die Corona-Pandemie sei die Zahl der Kinder mit Adipositas noch einmal massiv angestiegen – und mit ihr die Zahl der frühzeitig pubertierenden Kinder.

Als weiteren entscheidenden Faktor sieht Reschke Stress: „Um ihn zu bewältigen, bildet die zuständige Gehirn­region mehr Stresshormone, was Einfluss auf die Pubertätshormone haben kann.“ Auch Weichmacher wie Bisphenol A werden als Einflussfaktoren diskutiert, genau wie Phytoöstrogene, die in Pflanzen wie Soja enthalten sind und eine ähnliche Struktur wie die menschlichen Östrogene haben.

Gesellschaftliche Einflussfaktoren als Auslöser?

Inwieweit psychologische Einflüsse wirken, wird noch erforscht. So könnte es einen vorgezogenen Pubertäts­beginn begünstigen, wenn Kinder mit Thematiken konfrontiert sind, die eigentlich nicht ihrem Entwicklungs­stand entsprechen“, sagt Reschke. Das beginnt schon beim Spielzeug: Im Marketing etwa geht man von der Theorie „Kids getting older younger“, kurz KGOY aus, auf Deutsch: Kinder werden jünger älter. Das Konzept, mit dem man Barbiepuppen, blinkende Spielzeug-Laptops oder digitale Lesestifte bereits bei kleinen Kindern etabliert, nennt sich „Age compression“. Das Ziel: Kinder als Konsumenten für Produkte zu gewinnen, für die sie eigentlich noch zu jung sind.

Gesellschaftliche Einflussfaktoren als Auslöser?

Inwieweit psychologische Einflüsse wirken, wird noch erforscht. So könnte es einen vorgezogenen Pubertäts­beginn begünstigen, wenn Kinder mit Thematiken konfrontiert sind, die eigentlich nicht ihrem Entwicklungs­stand entsprechen“, sagt Reschke. Das beginnt schon beim Spielzeug: Im Marketing etwa geht man von der Theorie „Kids getting older younger“, kurz KGOY aus, auf Deutsch: Kinder werden jünger älter. Das Konzept, mit dem man Barbiepuppen, blinkende Spielzeug-Laptops oder digitale Lesestifte bereits bei kleinen Kindern etabliert, nennt sich „Age compression“. Das Ziel: Kinder als Konsumenten für Produkte zu gewinnen, für die sie eigentlich noch zu jung sind.

Was Romer noch in seinem Beruf beobachtet: „Bei Mädchen und Jungen, die in der Pubertät angelangt sind, zeigt sich die Tendenz, sich entsprechend den Schönheitsidealen älterer Jugendlicher zu schminken, zu stylen und zu kleiden und sich damit auch als sexuell attraktive Teenager zu positionieren. Man kann es kritisch als ‚Sexualisierung der Kindheit‘ bezeichnen.“ Das birgt Gefahren: „Wenn Kinder sich wie Erwachsene zeigen, werden sie auch so gesehen – und sind empfänglicher für Verführungen wie frühes Rauchen oder frühere Alkoholerfahrungen.“

Was Eltern tun können

Solange das Kind nicht extrem verfrüht in die Pubertät kommt, müssen sich Eltern keine Sorgen machen. „Kindheit bedeutet vor allem, dass spielerisches Ausprobieren angstfrei möglich ist“, sagt Romer von der UKM. „Und so hilft das Signal von den Eltern, dass man zum Beispiel auch mit wachsendem Busen noch ein Kind sein darf.“ Insgesamt seien Eltern als „robustes Gegenüber“ gefragt. „Sie sollten ihren Kindern helfen, sich altersgerecht in der Außenwelt zu verorten.“

Wichtig sei es, den Medienkonsum insbesondere in jungen Jahren zu begrenzen und so „zunächst ein Fundament analoger Erfahrungen zu schaffen – über gemeinsames Spielen, Sport, Jugendgruppen wie die Pfadfinder.“ Durch reale Sinneserfahrungen könnten Kinder sich außer­halb des Elternhauses verwurzeln, ohne sich hierzu in eine virtuelle Welt zu flüchten.

Je älter die Kinder, desto eher ist Romer zufolge ein „Leitplankenschutz“ gefragt – und gleichzeitig die Bereit­schaft, den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen und die Regeln des Miteinanders neu zu verhandeln. „Jugend­liche brauchen von Eltern so etwas wie eine Dumbledore-Haltung“, sagt er, „eine Art gelassene Güte, die sie schützt, wo es darauf ankommt, aber Kindern auch etwas zutraut.

Denn unsere Gesellschaft entwickelt sich auch dadurch weiter, dass Jugendliche manchmal versuchen, übers Ziel hinauszuschießen, Fragen radikaler stellen oder sich nicht mit Dingen zufriedengeben, in denen wir uns eingerichtet haben.“

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