Hilfsbereit und ganz verwegen

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Das Bild von Herrig

Das Bild von Herrig

Erftstadt-Herrig - Auf den ersten Blick erscheint Herrig wie jedes andere Dorf auch. Idyllisch, ruhig. Beim genaueren Hinsehen fällt auf, dass Herrig etwas hat, das andere nicht haben: die „Tonne 5“. Nein, es ist weder eine Disco noch ein Jugendzentrum oder eine Müllabfuhr. Es ist eine Tonne, eine rostige alte Öltonne. Gut versteckt hinter einer Böschung und Laubbäumen steht sie an der Straße „Am Marienkreuz“. Dahinter erstreckt sich eine grüne Wiese, auf der ein Holzschuppen steht. Wandhoch stapelt sich das Feuerholz. An dem Gatter erfährt jeder, um welche Tonne es sich handelt: „Tonne 5“. Nicht jedem wird aber Eintritt gewährt.

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Heute: Erftstadt-Herrig

„Nur die Harten kommen in Garten“ steht auf einem Schild an dem Gatter. Und: „Ohne Kasten Bier kein Zutritt hier.“ Klare Ansagen an die Besucher.

Einige Herriger mögen es offenbar verwegen. Jeden Samstagnachmittag knistert und qualmt es in dem Schrebergarten. Zeit für eine Hand voll Männer, sich um die Tonne zu versammeln und darin ein Feuer aus Holz, Tannenzweigen und Gartenabfall zu entfachen. „Wir trinken dann gemütlich unser Wochenendbier und lassen den Herrn einen guten Mann sein“, erklärt Bernd Zander. Der 41-jährige Kraftfahrer von der Spedition Schauff-Zander ist eines der fünf Gründungsmitglieder. Die Zahl erklärt auch den Namenszusatz des Treffpunkts. Die regelmäßige Gartenarbeit am Samstag, das Verbrennen von Gartenabfall und dazu ein paar Bierchen machten den Anfang. Inzwischen ist die „Tonne 5“ eine feste Institution, die auch über die Grenzen von Herrig hinaus bekannt ist. Auch die Nachbarn hinterlassen Äste und Zweige dort für das Tonnenfeuer. Das sei eben Herrig, sagt Zander. „Hier kann man auch mal eine Tonne in Brand stecken, ohne dass einer was sagt.“

Nicht zuletzt ist das auch durch die ländliche Lage und die vielen Ackerflächen um Herrig herum möglich. Denn früher bestimmte der Ackerbau den Ort. Von den ehemaligen rund 20 Bauernhöfen sind inzwischen nur noch drei übrig geblieben, die aktiv betrieben werden. Darunter der Domhof an der St.-Clemens-Straße. Auf dem Hofplatz bepflanzt Mathias Merckelbach in grünen Gummistiefeln und mit Filzhut gerade das Beet in einem alten Torfbecken. Der 84-Jährige präsentiert das über 200 Jahre alte Gebäude und weist stolz auf einen Wappenstein mit dem Kreuz des Kölner Domstiftes über dem Torbogen. Nachdem der Hof im Besitz des Domkapitels war, ging er durch mehrere Familienhände, bis er schließlich an Renate Pilgram weitervererbt wurde - die Frau von Merckelbach. Argwöhnisch schaut der 84-Jährige auf die Kamera. „Machen Sie Herrig bloß nicht berühmt“, sagt der Mann. Denn größer solle das Dorf nicht werden. „Was glauben Sie, wie idyllisch es hier ist.“ Menschlichen Kontakt gebe es hier noch. „In der Stadt ist das doch nicht möglich.“

Selbst der Postbote ist nicht immer ein fremdes Gesicht. Der Taxi- und Omnibusbetrieb Justen mit privater Postlizenz teilt einige der Briefe aus. Auch die Frau, die das Wasser abliest, wohnt im Ort. Sandra Seifert schmunzelt über die gelegentlichen Besuche der Frau. „Die hat alles im Griff. Sie weiß, wer was macht“, sagt die 37-Jährige, mildert es aber ab: „Ich finde das witzig.“

Neugierige Nachbarn

Vor drei Monaten ist sie von Köttingen nach Herrig gezogen und hat es nicht bereut. Alle seien sehr nett und hilfsbereit. Ja, und sehr neugierig. „Die melden sich dann zum Kaffee an, um einfach mal in die Bude reinzuschauen.“ Aber hier bekomme man noch Eier frisch vom Bauernhof nach Hause geliefert. Gemeint ist die Familie Faßbender aus dem Nachbarort Mellerhöfe, die jede Woche in ihrem weißen Bus auf Tour geht, Geschäfte macht von Haus zu Haus. Gelitten habe sie anfangs allerdings unter dem Verkehr auf der Lechenicher Straße, erzählt Seifert. Denn Herrig ist von Lechenich, Gymnich, Erp und Nörvenich umringt. Zu Hauptverkehrszeiten ist es ein Ort für die Durchreise. Lastwagen passieren Herrig auf dem Weg zur Autobahn, Trecker rollen zu den Äckern. Die Einzigen, die lautlos durch den Ort sausen, sind die Fahrradfahrer in neongelber oder knallroter Kluft. Mit einer Ausnahme: Wenn Paul Schauff auf seinem Drahtesel durch das Dorf fährt, dann knattert's. Sein Hilfsmotor am Rad schafft Geschwindigkeit. Auf die Frage, was Schauff an seinem Wohnort schätzt, zuckt er nur die Schultern. Kritik? An den Straßen könne man mal was machen, und die große Kreuzung, die sei unübersichtlich. Darauf geht der Motor aus. „Jetzt hat das Ding keine Lust mehr“, sagt Schauff trocken. Nach vier Startversuchen knattert es wieder, und er verabschiedet sich. Der Mann mit der Pelzmütze zählt zur älteren Generation - wie der Großteil der Einwohnerschaft. „Wir leiden unter der Landflucht der Jugendlichen“, erklärt Heinz Mörs, der seit 1989 Ortsvorsteher von Herrig ist. Das Durchschnittsalter liege über 60 Jahre in Herrig, Von ehemals knapp über 600 Einwohnern ist die Zahl inzwischen auf rund 522 (Stand Oktober 2005) geschrumpft. Nach Köln, Liblar oder Lechenich ziehe es die jungen Leute, sagt der Ortsvorsteher. Die Feste der Schützenbruderschaft St. Sebastianus, der Feuerwehr und des Sportvereins haben damit oft das Nachsehen. Mörs: „Die traditionellen Veranstaltungen werden nicht mehr gut besucht.“

Auch Helmut Elzer, der Inhaber der Gaststätte Bauernstube, ist auf Kunden von außerhalb angewiesen, damit er sein Haus voll kriegt. „Vom Ort allein kann ich nicht leben“, sagt Elzer. „Es ist wie in Monschau in der Eifel. Um 17 Uhr klappen hier die Bürgersteige hoch“, frotzelt er.

Schwierig, Fuß zu fassen

Trotzdem fühlt er sich wohl in Herrig. „Sonst wäre ich nicht so lange hier.“ Seit über 20 Jahren betreibt der gebürtige Koblenzer die Gaststätte. Und doch spürt er immer noch einen feinen Unterschied zwischen Zugezogenen und Eingesessenen. Zwar seien alle sehr offen. „Aber als Außenstehender werden Sie nie ein Herriger.“ Diese Erfahrung musste auch Anita Lambertz, die Erzieherin vom städtischen Kindergarten, machen. „Es ist schon eine Cliquenwirtschaft hier.“ Schwierig sei es gewesen, Fuß zu fassen, als die 52-Jährige von Kerpen-Brüggen nach Herrig gezogen war. Sie schätzt allerdings die Gemeinschaft. Wenn der Kindergarten etwas auf die Beine stelle, könne sie sich über zahlreiche Gäste freuen. Nach dem Kindergartenbesuch müssen die Knirpse sich im Nachbarort zur Schule aufmachen. Auch Geschäfte sind passé. Der Trend weg von den Tante-Emma-Läden hin zu Geschäften in größeren Ortschaften hat auch vor Herrig nicht Halt gemacht. Lechenich ist meistens das Ziel, wenn es zum Einkaufen geht. Kein Wunder. Der Ort ist nur einen Kilometer entfernt. Wer allerdings Herrig Lechenich zuordnet, der „wird unter Strafe gestellt“, frotzelt Bernd Zander. Das müsse man klar trennen. „Mit Windbeuteln wollen wir nichts zu tun haben“, sagt er augenzwinkernd. Er bedauert es nicht, dass es keine Geschäfte gibt. Dafür schätzt er die Hilfsbereitschaft der Nachbarn. Man brauche nur laut zu rufen, „und schon ist Hilfe da“, betont er. Irgendetwas, das ihm fehlt? „Nichts.“ Es gibt ja schließlich auch die „Tonne 5“. „Und die ist Kult“, sagt sein Nachbar Frank-Werner Zens.

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