Köln-Altstadt-Nord - GereonswallBei uns war immer Herbst

Lesezeit 7 Minuten

"Meine Straße" - Bei diesem Thema fällt wahrscheinlich den meisten Lesern die Straße ein, in der man seine Jugend verbracht hat, in der man anfing, seine Umwelt bewusst zu erleben und alleine, ohne die Eltern, zu erforschen. "Meine Straße der Erinnerung" wird nicht durch ihre Architektur geprägt sondern durch die Menschen, die darin lebten. Die Eindrücke dieser Straße bleiben erhalten und prägen das eigene Denken und Handeln.

Meine Straße, das war der Gereonswall. Ich war 4 oder 5 Jahre alt, als wir zum Eigelstein zogen - Hinterhof, 2. Etage, zwei Zimmer zum Hof, dunkel, zugig, kalt, Gemeinschaftstoilette auf dem Flur. Heute unvorstellbar, aber dort auch in den 60er Jahren noch normal. Die Menschen, die hier wohnten, kannten keinen Luxus, die meisten waren arm oder alt, es gab keine großen sozialen Unterschiede. Dieses homogene Gefüge hatte aber auch seine Vorteile, denn keiner, zumindest von uns Kindern, hatte das Gefühl, arm zu sein, weil Armut ein relativer Begriff ist und Menschen, die sich nicht arm fühlen, können glücklich arm sein.

Und doch gab es Unterschiede, die bestanden aber in der Art, wie man sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Eigelstein - Stavenhof - Gereonswall, das war das so genannte Milieu. Vor unserer Haustüre verlief der Straßenstrich, mit allen dazugehörigen Randerscheinungen. Wir erlebten in "unserer Straße" alles hautnah, waren überall dabei, egal ob Schlägereien, Hehlerei, Polizeieinsätze oder "normale Verhandlungsgespräche". Als Kind sah ich die Gefahren natürlich nicht, und so war diese Straße einfach nur Abenteuer pur. Ich hatte übrigens nie das Gefühl, dass die Frauen, die anschaffen gingen, verachtet wurden, im Gegenteil, manche wurden belächelt, einige bemitleidet, aber vor allem die älteren "Damen" wurden zumindest respektiert. Wir Mädchen bewunderten die wenigen jungen, hübschen Frauen mit ihren süßen kleinen Hunden. Hiervon gab es aber nicht mehr so viele, wie schon gesagt, hier gab es nur noch Arme oder Alte - zu dieser Zeit gab es noch keine Sanierungsprogramme. Das ganze Viertel verkam.

Hier spielten wir also, das war unsere Straße, keiner kannte die Gegend so gut wie wir Kinder. Hier war nichts verschlossen, keine Haustüre, kein Hof, kein Trümmergrundstück, und wenn doch, dann fanden wir schon einen Weg. Meine Straße hatte Kopfsteinpflaster und holprige Bürgersteige, aber trotzdem sind wir hier Rollschuh gelaufen - mit der Mutprobe, wer hält sich am längsten am Laster fest!

In der Erinnerung gab es in meiner Straße eigentlich nur zwei Jahreszeiten - Sommer und Herbst. Sommer war es nicht, wenn es heiß war, sondern wenn in die engen Straßen und Hinterhöfe mehr Licht fiel, es war heller. Herbst war der Rest der Zeit - es war diesig, feucht, dunkel. Winter, also Schnee, gab es glaube ich nur ein einziges Mal, ganz kurz, hier überlebte kein Schnee, Winter gab es eher in den kalten Wohnungen mit Eisblumen an den Fenstern. Was ich heute mit Frühling verbinde, das Erwachen der Natur, erste Blüten und der Duft nach Gras, den gab es dort nicht, den kannten wir überhaupt nicht. Bei uns war immer Herbst, aber ich mochte den Herbst, ich kannte ja nichts anderes.

"Meine Straße" war auch mein Schulweg, die ganze Straße entlang wurde alles aufgesogen, was es zu sehen gab. Morgens bewunderte ich die Müllmänner, mit welcher Geschwindigkeit sie die schweren runden Eisentonnen über das holprige Pflaster rollten. Mir begegneten die letzten Heimkehrer, die torkelnd das Schlüsselloch nicht fanden und die "Klüttemänner" - immer mit schwarzem Pulli und schwarzer Mütze und immer schmutzig - damals war für mich klar, der Hans Muff vom Nikolaus, der musste ein "Klüttemann" sein.

Wie oft hatte ich Angst, wenn ich an den Sesterpferden vorbei musste, die die vielen Kneipen belieferten und dort Bier anstelle von Wasser zum Trinken bekamen. Als Kind empfand ich sie als riesige Ungeheuer, schnaubend und wild um sich tretend, vor Pferden habe ich wahrscheinlich deshalb heute noch so großen Respekt. Und dann musste ich an dieser langen Mauer vorbei - endlos, dunkel und unheimlich. Dahinter lag der alte Klingelpütz, meine Schule war direkt daneben. Als das Gefängnis abgebrochen wurde, entstand hier später ein Park, aber in der Zwischenzeit war auch das unser Abenteuerspielplatz, wie alle Baustellen rundum.

Auf dem Gereonswall gab es keine Spielplätze und zurückblickend glaube ich, wir waren eher froh darüber, denn so konnten wir spielen wo wir wollten und hatten trotzdem unsere Eltern auf unserer Seite - wo sollten wir auch anders hin? Auch Fußball spielten wir auf dem Gereonswall, das Tor war die alte Einfahrt unseres Hauses. Gespielt wurde quer zur Straße, durch parkende Autos, die es dort auch damals schon zuhauf gab. Wenn es am lautesten knallte, war der Schuss erst gut. Klar wurden wir auch beschimpft deshalb und mussten (vorübergehend) aufhören, aber nicht von den alten Leuten, die den ganzen Tag mit den Ellebogen auf dem Sofakissen im Fenster lagen, denn die waren selber schon hier aufgewachsen. Außerdem kauften wir öfter für sie ein, und Kinder, die einem helfen, verjagt man nicht so schnell, Toleranz aus Eigennutz, wenn man so will. Zum Einkaufen ließen uns die alten Frauen am Seil ihre Tasche mit dem Geld herunter und zogen die gekauften Sachen auch wieder hinauf. Ich fand das, anders als meine Mutter, richtig praktisch.

Wir wuchsen mit unseren Eltern in den Kneipen dieser Straße auf, wir waren bei jedem Anlass dabei, konnten alle Lieder mitsingen, alle Kartenspiele und kannten jeden Wirt. Ich kannte das Wort Brauchtum noch nicht, aber z.B. das später durch die Bläck Föös bekannt gemachte "Leed vum Kacke", das kannte ich schon mit 8 Jahren auswendig. Allerdings vergesse ich auch nicht, wie peinlich mir es als Kind jedes Mal war, wenn meine Mutter es aus voller Brust in der Wirtschaft vorsang. Wir kannten die "Guten" und die "Bösen" unserer Straße, jedenfalls glaubten wir das. Diese Umgebung schärft das Urteilsvermögen, und ich wusste damals schon genau, was ich später wollte und vor allem, was ich später auf keinen Fall wollte.

Man neigt in der Erinnerung oft dazu, alles nostalgisch schönzureden, aber hier war wirklich ein verruchtes Viertel, und es gab sehr viele Situationen, die kein Kind erleben sollte. Trotzdem kamen wir Kinder uns behütet vor, denn das Milieu hatte seine eigenen Gesetze. Ich vergesse nie, wie der Wirt einer Kneipe einen Gast anfuhr, als dieser meine ersten weiblichen Formen ansprach - wir Kinder waren Tabu, so habe ich es damals empfunden aus meiner zwar kindlichen, aber sicher nicht mehr naiven Sicht. Dagegen war ich total schockiert, als mich an einem Abend ein Polizist sehr barsch ansprach, ich hätte um diese Urzeit nichts mehr hier auf der Straße zu suchen (ich war ungefähr 12 und es war höchstens 7 Uhr abends). Ich kannte diesen abschätzenden Blick, aber es war das erste Mal, dass ich merkte, dass er so auf mich fiel und das ausgerechnet von einem Polizisten. Ich wurde nicht mehr nur als Kind angesehen. Durch diese Szene ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, was es für mich bedeuten konnte, hier zu leben. "Meine Straße", die ich so gut kannte, wo ich groß geworden war, wo mir bisher nicht viel Negatives passiert war, sah ich von nun an anders. Diese Straße hatte für mich ihre Geborgenheit, ihre Unschuld verloren, aber das lag nicht an den Menschen, die hier lebten, sondern an denen, die hierher kamen.

Bald darauf zogen wir weg. Wenn ich heute erwähne, dass ich am Eigelstein aufgewachsne bin, kommt mir von Kölnern fast immer ein Lächeln entgegen, eher bewundernd, habe ich den Eindruck, in der Manier "A Mädche uss dem Leeve". Und obwohl ich die Zeit in "meiner Straße" für mich als durchaus positiv empfunden habe, fällt mir für das Aufwachsen meiner Kinder in diesem Zusammenhang dann immer der Cash-Song ein: "A boy named Sue" - überall, aber nie am Gereonswall!

KStA abonnieren