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„Ganz normale Familien“ bedrohtZahl der Menschen ohne Wohnung steigt auch im Rhein-Sieg-Kreis

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Das Nachtlager eines Obdachlosen vor einer Hauswand.

Die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen ist erneut deutlich gestiegen. 

Vor wenigen Tagen hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe mitgeteilt, dass in Deutschland mehr als eine Million Menschen keine Wohnung haben.

Das schöne Wetter täuscht. „Sonne bedeutet in dieser Jahreszeit immer auch Kälte“, weiß Bert Becker, Fachbereichsleiter Wohnungslosenhilfe beim Katholischen Verein für Soziale Dienste im Rhein-Sieg-Kreis SKM. Er betont aber auch: „Die Leute sind im Sommer immer noch obdachlos“ – die Not bleibt drängend, auch wenn die Sonne wärmt.

Erst vor wenigen Tagen hat die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe Zahlen für das Jahr 2024 vorgelegt. Demnach waren im Verlauf des vergangenen Jahres mehr als eine Million Menschen in Deutschland wohnungslos. Das bedeutet einen Anstieg um 100.000 Personen in zwölf Monaten. Schon im Vorjahresvergleich war die Zahl der Menschen, die keine Wohnung haben, um elf Prozent gestiegen. Sie leben in Notunterkünften, auf Campingplätzen oder auf der Straße. Die sogenannten Couch-Hopper, die bei wechselnden Freunden oder Verwandten unterkommen, bleiben dabei eher im Dunkeln.

Schon vor dem Flüchtlingszustrom und dem Ukrainekrieg sind die Zahlen der Obdachlosen deutlich gestiegen

Nach 37 Jahren – so lange ist Becker in der Obdachlosenarbeit tätig, ein Vierteljahrhundert allein in Siegburg – seien die Zahlen „wieder da, wo ich angefangen habe“, hat er festgestellt. Damals ließ die Maueröffnung die Zahlen rasant ansteigen; „die besten Jahre“, so Becker, seien die um 2000 gewesen. Da habe man als Gesellschaft gedacht, „wir haben es vielleicht geschafft“, der Obdachlosigkeit beizukommen. Doch schon vor dem Flüchtlingszustrom ab 2015 und dem Ukrainekrieg seien die Zahlen wieder deutlich gestiegen.

Bert Becker, Fachbereichsleiter Wohnungslosenhilfe beim SKM Rhein-Sieg

Bert Becker, Fachbereichsleiter Wohnungslosenhilfe beim SKM Rhein-Sieg

„Ein bisschen frustig“ sei das schon, räumt er im Gespräch ein. Zumal der Hauptgrund für die hohe Zahl der Wohnungslosen derselbe sei wie vor 37 Jahren: „Wir brauchen öffentlich geförderten Wohnungsbau“; stattdessen fielen stetig mehr Wohnungen aus der Preisbindung, als neue geförderte nachkämen. Viele bedürftige Menschen hätten kaum noch eine Chance; die Ratsuchenden berichteten von Besichtigungsterminen mit 100 Personen. 

Wir brauchen öffentlich geförderten Wohnungsbau
Bert Becker, Fachbereichsleiter Wohnungslosenhilfe SKM

Die Zahl der Übernachtungen in der SKM-Notschlafstelle Don-Bosco-Haus pendelt Jahr für Jahr um die 4000, große Schwankungen gibt es nicht. „Hart an der Grenze der Rentabilität“ sei das aber, die Finanzierung durch den Kreis indes gedeckelt. Dächte der Träger rein wirtschaftlich, dann, so Becker, „müssten wir heute schließen“.

Als Indikator für die Gesamtsituation ist für Becker und sein Team im Don-Bosco-Haus die Zahl derjenigen bedeutsamer, die über das Haus an der Siegburger Luisenstraße ihre postalische Erreichbarkeit sicherstellen: 313 Männer und Frauen lassen sich derzeit ihre Post hierherschicken, 250 waren es noch im Sommer vor zwei Jahren. Übers Jahr betrachtet, sind es 700 bis 750 Personen, die das Angebot nutzen und beispielsweise Bescheide des Jobcenters hier empfangen.

„Relativ voll“ sind laut Bert Becker die kommunalen Unterkünfte im Umland. Man könne weniger mit den einzelnen Personen arbeiten; „es geht darum, sie unterzubringen.“ Dabei stünden die Nachbarkommunen einerseits finanziell unter Druck, andererseits auch angesichts der großen Zahlen unter einem großen Handlungsdruck. Und mit der Zahl der Betroffenen steige auch die Zahl derer, die psychisch krank seien oder mit Sprachbarrieren kämpften. Handy-Apps als Übersetzungshilfe seien da schnell überfordert – denen fehle das Vokabular für die oft komplexen Zusammenhänge.

Siegburg, Hennef und Troisdorf erwägen gemeinsame, aufsuchende Hilfen für Menschen auf der Straße

Die Entwicklung der Obdachlosenzahlen „schreie“ nach mobiler aufsuchender Hilfe, sagt Bert Becker: Arbeit, wie sie seine Kollegin Varressa Lombardi-Boccia seit Jahren leistet. Sie besucht Menschen, die auf der Straße leben, in Notunterkünften oder auf Campingplätzen. Derzeit gibt es Gespräche über eine Zusammenarbeit der Städte Siegburg, Hennef und Troisdorf auf diesem Gebiet.

Es sind ganz normale Familien, die arbeiten, aber ab dem 20. des Monats ihre Kinder nicht mehr satt kriegen
Angela Holtmann, Siegburg hilft

„Wir spüren das auch“, bestätigt Angela Holtmann, Gründerin und 1. Vorsitzende von „Siegburg hilft“, Beckers Einschätzung. Zum Beispiel bei der wöchentlichen Ausgabe von Essen im ehemaligen Autohaus Bässgen an der Frankfurter Straße. „Es war wieder sehr voll“, berichtet sie von der Ausgabe am vergangenen Donnerstag. Zwischen 50 und 70 Personen hätten die Gelegenheit genutzt, kostenlos eine warme Mahlzeit zu bekommen.

„Das nimmt zu“, stellt Holtmann fest, die den Verein vor einigen Jahren gründete. „Und es ist auch so, dass viele kurz vor der Obdachlosigkeit stehen“ oder dass zu Hause der Strom abgestellt wurde. Teilweise seien es „ganz normale Familien, die arbeiten, aber ab dem 20. des Monats ihre Kinder nicht mehr satt kriegen“. Eine Entwicklung, die Holtmann und das Team der rund 25 Ehrenamtlichen seit etwa einem Jahr beobachten. Und die ihr sehr zu schaffen macht. „Im Moment gelingt es mir nur schwer, mich abzugrenzen“, sagt sie. „Die Leute kommen auch mit ihren Kindern.“ 

Männer und Frauen stehen an einem Tisch und bereiten Burger zu.

"Siegburg hilft"-Gründerin Angela Holtmann (li.) und weitere Ehrenamtliche geben regelmäßig kostenlose Mahlzeiten aus.

Für Menschen, bei denen die Speisekammer leer ist, kann der Verein meist schnelle Soforthilfe leisten. In der Begegnungsstätte „Riemberger Hof“ lagern haltbare oder tiefgekühlte Lebensmittel, die die Ehrenamtlichen abgeben können. Die Helferinnen und Helfer begleiten Ratsuchende aber auch zu Besuchen bei professionellen Fachleuten, sei es bei der Stadt Siegburg – wenn es zum Beispiel darum geht, den Verlust der Wohnung abzuwenden –, bei der Vermittlung in ein Betreutes Wohnen, zur Entgiftung oder Behandlung einer psychischen Erkrankung in der Landesklinik Bonn.

Verein „Siegburg hilft“ sucht händeringend Unterstützer, um das Angebot weiter aufrechtzuerhalten

Während sie immer wieder Klienten mit Kleidung und Toilettenartikeln für einen Klinikaufenthalt versorgen, werden die Aktiven von „Siegburg hilft“ inzwischen auch angerufen: Weil beispielsweise ein Klinikpatient nach der Entlassung wohnungslos wäre oder die Polizei um Rat fragt. „Wir arbeiten alle ehrenamtlich“, betont Holtmann. „Aber in der Zwischenzeit ist es ein Fulltimejob geworden.“

Unterdessen geht der Verein selbst „in eine harte Zeit“, wie die Vorsitzende berichtet: Die Miete für die ehemalige Gaststätte „Riemberger Hof“ war durch eine Spende für ein Jahr gesichert. Doch dieses Jahr läuft sie nun aus. „Wir suchen händeringend jemanden, der uns unterstützt“.