Alte Wirkstoffe, neue Hoffnung?Die Jagd nach dem Corona-Impfstoff

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Ein Mann schaut sich in einem Labor des biopharmazeutischen Unternehmens Curevac einen Träger mit Bakterien an, aus denen DNA und anschließend RNA gewonnen wird (Symbolbild).

Berlin/Hannover – Am Abend des siebten Tages greifen die Ärzte des Providence Regional Medical Center in Everett, US-Bundesstaat Washington, zu ihrem letzten Mittel. Seit einer Woche ist der 35-jährige Patient bei ihnen, der nach einer Reise zu seiner Familie in Wuhan, China, über Fieber und Husten geklagt hatte. Das Ergebnis des Abstrichs, den die Ärzte per Flugzeug in ein Labor nach Atlanta geschickt hatten, hatte ihren Verdacht bestätigt: Sie hatten den ersten Corona-Patienten in den USA vor sich.

In den ersten Tagen auf einer kleinen Isolierstation klagt der Patient nur über leichte Symptome. Dann aber verschlechtert sich sein Zustand rapide. Röntgenaufnahmen zeigen eine schwere Lungenentzündung, sein Blut führt immer weniger Sauerstoff mit sich, er muss künstlich beatmet werden. Am Abend des siebten Tages nun, dem 26. Januar, geben ihm die Ärzte ein Medikament, das ursprünglich gegen Ebola und das gefährliche Marburgvirus entwickelt worden war: Remdesivir. Es ist ein Versuch in Ermangelung anderer Mittel, nicht mehr.

Remdesivir gegen Corona? Ein Mittel, das bereits als Versager galt

Dann geschieht das Erstaunliche: “Am achten Tag in der Klinik verbesserte sich der Zustand des Patienten”, berichteten die Ärzte vor Kurzem im “New England Journal for Medicine”. Er bekommt wieder Luft, der Appetit kehrt zurück, nur der Husten plagt ihn noch etwas länger. Drei weitere Tage später, am 30. Januar, konnte der Patient die Klinik verlassen.

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Bloßer Zufall – oder hat das Medikament dem Mann das Leben gerettet? Das vermuten die Ärzte – beweisen können sie es nicht. Klar ist aber, dass mit dem erfolgreichen Einsatz beim amerikanischen Patienten null eine erstaunliche Karriere des Mittels begann. Eigentlich galt Remdesivir bereits als Versager, nachdem es in Studien mit Ebola-Patienten im Kongo anderen Mitteln deutlich unterlegen war. Nun aber avanciert es plötzlich zum obersten Träger zarter Hoffnungen im Kampf gegen Covid-19, die durch das neue Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelöste Lungenkrankheit.

Mittel gegen Corona: Studien auch in Deutschland

Die Hoffnung gründet sich auf Erfahrungen wie jene mit dem 35-jährigen Patienten aus dem US-Bundesstaat Washington. Es gibt weitere solcher Geschichten, gerade etwa die eines 79-Jährigen in Italien, der nach Remdesivir-Gabe wieder aus der Klinik entlassen werden konnte. Vor allem gründet sie darauf, dass es Forschern der University of North Carolina gelungen war zu zeigen, dass das Mittel die Vermehrung der verwandten Sars- und Mers-Viren in infizierten Lungenzellen tatsächlich stoppen kann.

Weltweit laufen nun bereits mehrere Studien zur Wirksamkeit von Remdesivir bei Covid-19, Anfang April sollen auch an drei deutschen Kliniken die ersten Studien beginnen. Einen Beweis gibt es also bislang nicht, nur einige medizinische Anekdoten. Aber unter Klinikern, die Covid-19-Patienten behandeln, gilt Remdesivir als durchaus aussichtsreicher Weg.

Als “breit wirksame vielversprechende neue Waffe” bezeichnet etwa der Infektiologe Professor Matthias Stoll von der Medizinischen Hochschule Hannover das Mittel, dessen erfahrener und als erfolgreich geltender Hersteller auch für eine zuverlässige Verbreitung sorgen könnte. “Es sieht dort also gut aus, sehr, sehr schnell zu einem Wissenszuwachs und zu Handlungsoptionen zu gelangen”, erklärt Stoll.

Der nächste Hoffnungsträger: Ein altes Malariamittel

Genau das wäre auch dringend nötig – denn immer klarer wird, dass wohl nur die Medizin und die Pharmaforschung das Virus letztlich stoppen können. Neue Modellrechnungen zeigen, dass selbst schärfste Maßnahmen, vom Veranstaltungsverbot bis zur Ausgangssperre, das Virus zwar eindämmen können – mit weiteren lokalen Ausbrüchen oder Wellen wäre aber dennoch wohl für lange Zeit zu rechnen.

Den Durchbruch im Kampf gegen Sars-CoV-2 könnte nur ein Impfstoff bringen. Aber bis der verfügbar ist, könnten Medikamente für die schwersten Fälle Leben retten – und letztlich auch die Kliniken entlasten. Die Entwicklung neuer Medikamente ist enorm aufwendig und dauert meist viele Jahre – infrage kommen jetzt als rasche Hilfe nur bereits vorhandene und getestete Mittel, die gegen andere Krankheiten entwickelt wurden, zusätzlich aber auch gegen Covid-19 helfen könnten. Da ist Remdesivir, bei aller Vorsicht, zurzeit der wohl aussichtsreichste Kandidat – aber nicht der einzige.

Ein anderer ist Chloroquin – ein Malariamittel, dessen Namen in der vergangenen Woche plötzlich halb Deutschland kennenlernte, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärte, vorsorglich größere Mengen beim Hersteller Bayer geordert zu haben. Anders als Remdesivir soll es die Viren daran hindern, sich von Zelle zu Zelle zu verbreiten. Die Vorteile: Es ist billig, seit Langem im Einsatz, ein pharmazeutischer Klassiker mit 60-jähriger Geschichte, der in einer Studie in China bereits Erfolge zeigte. Genauere Daten soll jetzt eine deutsche Studie liefern, die an diesem Montag in Tübingen beginnt.

“Wir hoffen, dass wir in zwei Monaten fertig sind”, sagt Peter Kremsner, Leiter des Tübinger Instituts für Tropenmedizin, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. “Vielleicht haben wir bereits in einem Monat erste vielversprechende Ergebnisse.”

Dennoch bleibt Kremsner vorsichtig: “Es kann durchaus sein, dass Chloroquin keinen Nutzen für Covid-19-Patienten hat oder ihnen sogar schadet. Dann würden wir die Studie schnell abbrechen.“

Die USA ließen das Medikament bereits gegen Covid-19 zu

Die Vorsicht ist berechtigt: Die chinesische Studie kritisierte der deutsche Virologe Christian Drosten von der Charité bereits als wenig aussagekräftig. Eine große Hoffnung ersetzt eben keinen Beweis. Die Gefahr ist nur, dass solche Hinweise überhört werden. Dass der Druck auf Hersteller und Zulassungsbehörden steigt, die sonst vor der Einführung nötigen aufwendigen klinischen Tests zu übergehen.

Die USA haben laut Präsident Donald Trump Chloroquin in der vergangenen Woche als Anti-Corona-Medikament bereits zugelassen. Er wolle es jedem Amerikaner zur Verfügung stellen, tönte Trump zum Entsetzen der Fachkundigen unter seinen Beratern. Chloroquin muss, sollte es überhaupt gegen Covid-19 wirken, sehr hoch dosiert werden. Der Schritt zu einer Überdosierung ist klein – in der kann das Mittel lebensgefährlich sein.

So bewegt sich die medizinische Forschung derzeit auf einem schmalen Grat. Weltweit arbeiten Wissenschaftler gemeinsam unter Hochdruck an Mitteln gegen das neue Virus – und haben dabei schon wichtige Fortschritte erzielt.

“Eine unfassbare Leistung”

“Dass wir bei einer Krankheit, die wir erst seit Januar dieses Jahres kennen, Mitte März publizierte Daten zu Behandlungsmöglichkeiten haben, gerade acht bis zehn Wochen, nachdem wir das Virus identifiziert haben, das gibt Hoffnung”, sagt der Infektiologe Stoll – der von einer “unfassbaren wissenschaftlichen Leistung” spricht, die noch vor 20 Jahren nicht möglich gewesen wäre.

Aber wahr ist es eben auch: Trotz aller Fortschritte ist ein Durchbruch bislang nicht in Sicht. So steigt die Gefahr, dass Politiker und Forscher unter dem Druck steigender Infiziertenzahlen die Sicherheit neuer Mittel hintanstellen – und damit wiederum Patienten gefährden könnten.

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Die ersten Tests mit einem Impfstoff laufen – am Menschen So hat in Seattle vor wenigen Tagen die 43-jährige Jennifer Haller als erste Testperson bereits einen Sars-CoV-2-Impfstoff injiziert bekommen. Hinter dem Versuch steht das Unternehmen Moderna – eine von weltweit 41 Biotech-Firmen und Forscherinitiativen, die sich derzeit einen Wettlauf um den ersten Impfstoff liefern. Noch in diesem Juni will auch das deutsche Unternehmen Curevac aus Tübingen mit klinischen Tests beginnen. Beide arbeiten mit einem neuen Verfahren, einer Boten-RNA, bei der die Patienten nicht, wie im klassischen Verfahren, einen abgeschwächten Erreger erhalten, sondern ein Mittel gespritzt bekommen, mit dem die Körperzellen Antigene produzieren, die die Immunzellen wiederum zur Produktion von Antikörpern anregen.

Der Vorteil: Die Entwicklung und Produktion dieser Mittel geht relativ schnell, auch in größeren Stückzahlen. Ein Nachteil: Bislang gibt es weltweit noch keinen zugelassenen Impfstoff auf der Basis dieses Verfahrens.

Die meiste Zeit frisst nicht die Suche der Stoffe – sondern die Tests

Was die Entwicklung eines Impfstoffs so langwierig macht, ist nicht die Suche nach einem geeigneten Modell – es sind die aufwendigen Tests vor der Zulassung. Labortests, Tierversuche, dann drei klinische Phasen, in denen die Forscher Unschädlichkeit und Wirksamkeit der Stoffe beweisen müssen. Mit den jetzigen Tests hat Moderna noch vor Abschluss der Tierversuche begonnen. Die Abkürzung hat den Segen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ein Risiko bleibt sie dennoch.

Italien schließt wegen Coronavirus alle nicht lebensnotwendigen Unternehmen

“Die Gefahr ist, dass man der Sicherheit nicht oberste Priorität einräumt”, sagte Professor Stephan Becker, Leiter des Instituts für Virologie der Universität Marburg, bereits Mitte Februar – zu einem Zeitpunkt, als das Coronavirus den meisten Deutschen noch wie eine sehr theoretische Gefahr erschien. Unsichere, nicht ausreichend getestete Impfstoffe seien nicht nur eine Bedrohung für den Patienten, sondern auch für die Impfbereitschaft insgesamt. “Da würden wir uns alle einen Bärendienst erweisen”, sagt Becker.

Ein Pockenvirus als Träger

Becker kennt sich aus mit Impfstoffen gegen Sars-Viren. 2003 hatte er einen Impfstoff gegen das erste Sars-Virus entwickelt – dessen weitere Erprobung trotz erfolgreicher Tierversuche nach einem Jahr abgebrochen wurde, weil das Virus keine Gefahr mehr zu sein schien. Jetzt arbeitet der 59-Jährige mit seinem Kollegen Professor Gerd Sutter von der Ludwig-Maximilians-Universität unter dem Dach des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung an einem Impfstoff gegen das neue Coronavirus. Sie setzen auf eine Art Huckepacklösung, das sogenannte Vektormodell: Als Träger dient ein abgeschwächtes, nicht krank machendes Pockenvirus, in das Merkmale des neuen Coronavirus eingesetzt werden – so wie später möglicherweise die anderer neuer Viren.

Der Vorteil: Das Modell erzeugt in der Regel stärkere Immunantworten des Körpers als die sogenannte Boten-RNA. Der Nachteil: Es muss intensiv getestet werden. Wenn alles “superideal läuft”, so Sutter, könne die klinische Phase der Prüfungen in einem Jahr beginnen.

Das ist für die Wissenschaft extrem schnell. Aber hat die Menschheit so viel Zeit? So viel Geduld?

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Vor Ablauf von einem bis eineinhalb Jahren rechnet derzeit kein seriöser Experte mit einem Impfstoff gegen Sars-CoV-2 – der dann in einem ersten Schritt sicher auch zunächst an medizinisches Personal und später erst an andere Berufsgruppen gegeben würde. Zu all den strengen Regeln der sozialen Distanzierung, zu Schulschließungen, Versammlungsverboten und Ausgangssperren, sind also weder Medikamente noch Impfstoffe in kurzer Zeit eine Alternative.

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