Kommentar zu Andrij MelnykDer ukrainische Botschafter stört die Ruhe in Berlin

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Melnyk Berlin 2203

Andrij Melnyk steht auf der Besuchertribüne im Bundestag vor der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

In der vorigen Woche war Andrij Melnyk wieder im Bundestag. Er saß wieder auf der Ehrentribüne des wuchtigen Reichstagsgebäudes. Und wieder wurde er von den fast vollständig erschienenen Abgeordneten beklatscht – so wie sein Präsident Wolodymyr Selenskyj, der online zugeschaltet war und eine wuchtige Rede hielt.

Dreieinhalb Wochen vorher hatte der ukrainische Botschafter schon einmal auf der Ehrentribüne gesessen, seinerzeit neben dem Altbundes­präsidenten Joachim Gauck, der ihn umarmte. Das war drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, der Deutschland schockiert hat wie wenige Ereignisse seit 1945.

Melnyk eckt in Berlin an

Tatsächlich täuscht der Beifall im Hohen Haus über das Verhältnis der „Ureinwohner“ im Regierungsviertel zu Melnyk und seiner Ukraine hinweg. Der 46-Jährige ist keineswegs überall wohlgelitten, sondern gilt nicht wenigen als allzu breitbeiniger Ruhestörer.

In Deutschland gibt es ungefähr 160 diplomatische Vertretungen anderer Länder. Die meisten ihrer Chefinnen oder Chefs treten öffentlich nur einmal größer in Erscheinung – wenn sie dem Bundespräsidenten standesgemäß ihre Aufwartung machen. Lediglich bei wenigen Emissären ist das anders. Richard Grenell, US-Botschafter unter Donald Trump, fiel auf, weil er bisweilen noch etwas fanatischer wirkte als der Mann im Weißen Haus. Der Schweizer Botschafter Thomas Borer wiederum führte ein so buntes Privatleben, dass Boulevardmedien Purzelbäume schlugen.

Melnyk – 1975 im westukrainischen Lwiw geboren, 1999 zum Botschaftssekretär in Wien ernannt, 2007 bis 2010 Generalkonsul in Hamburg und seit 2015 Botschafter in Berlin – ist ganz und gar nicht exzentrisch, sondern ein sehr freundlicher Mensch, der sich für Kultur interessiert, bereitwillig Interviews gibt und seinem Gegenüber zum Abschied die Hand schüttelt. Außerdem spricht er ein wunderbares Deutsch, in dem Vokabeln wie „drittrangig“ vorkommen.

Melnyk forderte weitergehende Maßnahmen

Allerdings ist Melnyk Botschafter eines Landes, das um seine Existenz kämpft und sich mehr Unterstützung von der deutschen Seite wünscht, als diese zu geben bereit ist. Der grauhaarige Mann ist derjenige, der diese Wünsche stets aufs Neue formuliert. Das stößt besonders der SPD sauer auf. Der sozialdemokratische Abgeordnete Sören Bartol beschrieb Melnyk zuletzt als „Botschafter“ in Anführungszeichen und musste dies später zurücknehmen. Auch mit Fraktionschef Rolf Mützenich geriet Melnyk aneinander. Insofern ist der Applaus im Bundestag mit Vorsicht zu genießen.

Abgesehen davon drückt sich Melnyk selbst alles andere als diplomatisch aus, sondern sagt, was er denkt, nicht selten brüsk. Damit gerät er automatisch in Gegensatz zu einem politischen Betrieb, in dem Aussagen meist weniger Überzeugungen folgen als einem Kalkül – und in dem jenes „Wording“ ausschlaggebend ist, das etwa die damalige rheinland-pfälzische Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) während der Hochwasserkatastrophe im vorigen Sommer von ihren Mitarbeitern einforderte.

Das „Wording“ wird mit Blick auf die möglichst positive Wirkung im öffentlichen Raum gewählt. Es soll keine Angriffsfläche bieten und bestehende Angriffsflächen reduzieren.

Direktheit und Emotionen unangebracht

Melnyks Sätzen merkt man an: Er denkt nicht in erster Linie an die Wirkung. Und er misst andere daran, ob deren Taten mit den Worten Schritt halten. Wer so agiert, wird in Berlin normalerweise nicht alt. Oft schafft er es erst gar nicht bis dahin. Dass Worte und Taten zweierlei Paar Schuhe sind, ist für viele deutsche Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker selbstverständlich. Die Kunst besteht darin, die Kluft zu verschleiern. Überdies leisten sich Repräsentanten der Ukraine heute Emotionen, notgedrungen. Emotionen sind in Berlin ebenfalls eher unüblich. Sie gelten als unprofessionell.

In der Ukraine wird damit ein Typus Politiker geprägt, den es im Westen bis in die 1980er-Jahre noch gab: Kurt Schumacher und Herbert Wehner (beide SPD) oder Konrad Adenauer und Alfred Dregger (beide CDU) – gezeichnet vom Krieg und bisweilen kompromisslos in der Rhetorik. Oder Typen wie der Grüne Werner Schulz im Osten, der seine Wurzeln in der DDR-Opposition hatte und der sich nach 1989 mit dem Anführer der Ökopartei, Joschka Fischer, anlegte. Aus Überzeugung.

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Sie alle wurden nicht in einer politischen Jugendorganisation sozialisiert mit dem Ziel, irgendwann einmal Bundestags­abgeordneter oder mehr zu werden. Sie waren Produkte deutscher Geschichte und handelten entsprechend.

Andrij Melnyk wird deshalb in der deutschen Hauptstadt ein Fremder bleiben. Wie immer der Krieg auch ausgeht. (rnd)

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