Frontex-Chef„Nach Corona werden mehr Flüchtlinge versuchen, nach Europa zu kommen“

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Ein Frontex-Schiff im Februar 2020 auf Patrouille vor der griechischen Insel Lesbos.

Monsieur Leggeri, der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann hat Frontex als überteuerte Fantasie-Polizei bezeichnet, deren Name an eine Zahnpasta erinnert. Wie würden Sie Herrn Böhmermann gern antworten? Fabrice Leggeri: Oh, ich kenne diese ZDF-Sendung. Ich kann dazu nur sagen, dass die Darstellung nicht richtig war.

Da geht es Ihnen aber nicht um den Zahnpasta-Namen, sondern um den Vorwurf, Sie hätten heimlich Rüstungslobbyisten getroffen und die Öffentlichkeit darüber belogen.

Die angeblich heimlichen Dokumente dazu hatten wir längst selbst auf unserer Homepage veröffentlicht und andere wurden im Rahmen des öffentlichen Zugangs zu Dokumenten freigegeben. Es geht auch nicht um Rüstungsgüter. Wir veranstalten Treffen mit Industrie und Forschern, um uns über Technologien zu informieren, die uns bei unseren polizeilichen Aufgaben wie Grenzkontrollen und Grenzüberwachung helfen – und so auch das Leben von Reisenden erleichtern, wie an Flughäfen und Landgrenzen. Natürlich geht es auch um Technologien zur Rettung von Vertriebenen im Mittelmeer. Jedes dieser Treffen wird auf unserer Homepage angekündigt. Wir wollen also nichts verheimlichen, sondern sind sogar stolz darauf.

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Der Franzose Fabrice Leggeri führt seit 2015 die EU-Grenzschutzorganisation Frontex.

Und dabei lassen Sie sich dann von den Entwicklungsfirmen erklären, wie Sie Frontex militärisch ausrüsten können?

Nein. Erstens bin ich bei diesen Sitzungen fast nie persönlich dabei, ich treffe die Firmen bei unserem jährlichen Event für Grenzbeamte und Küstenwachen, wo auch Geräte und Technologien vorgestellt werden. Und zweitens brauchen wir gar keine militärische Ausrüstung.

Aber Frontex soll doch in den nächsten Jahren stark ausgebaut werden, um die EU-Außengrenzen zu schützen – vor allem vor eindringenden Migranten.

Was sehr wichtig ist: Wir haben keinerlei militärische, sondern allein zivile Aufgaben – in erster Linie die Bekämpfung krimineller Netzwerke an den Grenzen, etwa den Drogen- oder Waffenschmuggel. Es gibt natürlich auch Grenzüberwachung zur Kontrolle illegaler Migration. Aber das sind keine militärischen Bedrohungen.

„Die Fakten sind nicht immer eindeutig zu klären“

Zuletzt gab es den Vorwurf, Frontex-Beamte seien mehrfach an illegalen Pushbacks in der Ägais beteiligt gewesen: Sie hätten also das Asylrecht ignoriert und Migranten illegal aus der EU geschafft – oder zumindest weggesehen, als griechische Beamte das taten.

Wir nehmen das sehr ernst. Als es im Herbst Meldungen und Videos dazu gab, habe ich sofort interne Untersuchungen eingeleitet und unabhängige Ermittlungen von EU-Kommission und Frontex-Verwaltungsrat empfohlen. Leider sind gerade in Gebieten, wo Hoheitsgebiete verschiedener Staaten aneinandergrenzen und es dort auch noch Spannungen gibt – wie zwischen Griechenland und Türkei – die Fakten nicht immer eindeutig zu klären. Wir arbeiten aber daran, unser Meldesystem und den Informationsaustausch zu verbessern. Aber Fakt ist: Es fand sich kein Beleg dafür, dass Frontex-Personal an rechtswidrigen Rückführungen beteiligt war.

Frontex erweckt aber in solchen Fällen den Eindruck, es sei der EU wichtiger, ihr die Migranten vom Leib zu halten, als sie aus Seenot zu retten.

Das ist falsch. Die EU-Verordnung, die die See-Einsätze von Frontex regelt, sagt klar: In einer Notlage hat Rettung stets Vorrang. So haben wir immer gehandelt: 2020 haben wir mehr als 13 000 Menschen gerettet, in den letzten fünf Jahren insgesamt mehr als 350 000 Menschen, meist im Mittelmeer.

Aber Frontex drängt auch Schiffe ab.

Diese Verordnung sieht auch vor: Handelt es sich nicht um eine Notlage, kann der Mitgliedsstaat – in diesem Fall Griechenland – auch Frontex-Einsätze benutzen, um beim Abfangen von Schiffen zu helfen. Abfangen heißt, die Anweisung, den Kurs zu ändern, darf einem Boot gegeben werden, falls das Boot mutmaßlich zum Zweck des Menschenschmuggels oder anderer kriminellen Aktivitäten benutzt wird oder sich den Kontrollen entzieht.

Ist es nicht ein Konstruktionsfehler, dass sich Frontex den nationalen Behörden unterordnen muss?

Wenn wir einen europäischen Bundesstaat hätten, dann wäre Frontex eine Art EU-Bundesgrenzschutz. Soweit sind wir aber noch lange nicht. Ich wünsche mir, dass sich das in ein paar Jahren ändern wird und wir in Richtung mehr EU gehen.

„Wir machen Dienst an den Außengrenzen und helfen bei der Rückführung von Migranten“

Wie sehen Sie die Rolle von Frontex im neuen EU-Migrationskonzept? Ihre Behörde soll bis 2027 auf 10.000 Mann anwachsen, zugleich können sich die EU-Staaten nicht auf ein Verteilsystem für Migranten einigen. Haben Sie das Gefühl, dass Frontex deshalb die Drecksarbeit für EU machen muss?

Unsere Rolle ist klar definiert, und Mitgliedsstaaten und Kommission haben hohe Erwartungen an uns. Wir machen Dienst an den Außengrenzen und helfen bei der Rückführung von Migranten: 2020 waren wir an 20 Prozent aller Rückführungen beteiligt. Wir helfen auch bei der Registrierung von Migranten. Wenn wir mehr Personal haben, können wir natürlich noch stärker helfen.

Noch einmal: Die EU-Migrationspolitik setzt immer stärker auf den Schutz der Außengrenzen, in der Frage der Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen geht aber nichts voran. Wie lässt sich das ändern?

Da fragen Sie die falsche Behörde. Frontex kann den EU-Gesetzgeber nicht ersetzen. Wir machen keine Gesetze, sondern setzen sie um. Wir brauchen klare Vorgaben. Wenn der EU-Gesetzgeber aber keine Asyl- oder Migrationspolitik entscheidet, dann hat die negativen Auswirkungen auf die Lage an den Außengrenzen. Das haben wir 2015 und 2016 sehr deutlich erlebt.

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Seit fünf Jahren gibt es das Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Türkei. Bis 2020 hat Frontex Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Aber seit Monaten macht die Türkei nicht mehr mit. Erwarten Sie, dass Ankara seine Verpflichtungen bald wieder erfüllt?

Seit März 2020 hat die Türkei in der Tat keine Migranten mehr aufgenommen und das mit der Pandemie begründet. Wir müssen jetzt abwarten, ob die Gespräche zwischen der EU und der Türkei das verändern werden. Frontex steht bereit, die Rückführungen fortzusetzen.

Wegen Corona ist die Zahl der Migranten nach Europa stark gesunken. Was passiert nach der Pandemie?

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„Frontex hat sich an keinen rechtswidrigen Rückführungen beteiligt“

Angesichts der Vorwürfe gegen Frontex, aber auch wegen der Ermittlungen des Europaparlaments und der EU-Anti-Betrugsbehörde Olaf gegen Ihre Agentur, gab es schon Rücktrittsforderungen an Sie. Fühlen Sie sich noch genügend unterstützt, um als Frontex-Chef weitermachen zu können?

Die Antwort fällt mir leicht. Frontex hat sich an keinen rechtswidrigen Rückführungen beteiligt. Die Vorwürfe gegen Frontex wurden geklärt. Ich fühle mich ausreichend unterstützt. Ich mache weiter.

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