Im PorträtDie Klitschko-Brüder – Vom Boxring auf die politische Weltbühne

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Wladimir (links) und Vitali Klitschko im Rathaus von Kiew am 27. Februar.

Kiew – Kiews Bürgermeister besucht Baustellen in seiner Stadt. Das klingt nach Alltag in Friedenszeiten. Nur, jetzt sind es Straßensperren, die Vitali Klitschko besichtigt.

Der frühere Box-Champion steht in Schutzweste und mit entschlossenem Gesicht vor der Kamera. „Freunde!“, beginnt er seine kurze Ansprache. Das sagt er jetzt oft, nicht mehr nur „Liebe Kiewer“. „Freunde“, das klingt nach Schickalsgemeinschaft und nach Hoffnung. Hinter ihm wuchten zwei Männer stählerne Panzersperren auf die Straße. „Sie sind bereit und werden die Hauptstadt, das Herz der Ukraine, verteidigen“, verspricht Klitschko.

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Ein Mitarbeiter des ukrainischen Zivlischutzes vor einem Vitali-Klitschko-Plakat im Kiewer Rathaus.

Im ARD-Morgenmagazin berichtet er davon, welche Männer ihm da begegneten. „Ein Geiger, ein Chirurg, ein Theaterkünstler. Alle mit Maschinengewehren. Niemand von ihnen hätte sich je vorstellen können, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Aber jetzt stehen sie da.“ Hätte er selbst je damit gerechnet, sich in einem Krieg wiederzufinden? „Niemals“, antwortet Klitschko mit Nachdruck. „Niemals.“

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„Solidarität zeigen“: Vitali Klitschko lädt spirituelle Führer nach Kiew ein

In einem Facebook-Video, das am Samstag veröffentlicht wurde, wendet sich Vitali Klitschko gemeinsam mit seinem Bruder Wladimir an die Welt. „Was passiert im Herzen von Europa, berührt das Herz aller Bewohner dieses Planeten, die Gerechtigkeit lieben“, der seit Mai 2014 Bürgermeister von Kiew ist. In dem Video wendet sich Klitschko an die spirituellen Führer dieser Welt und ruft Papst Franziskus, den Dalai Lama, den Islamgelehrten Ahmed Mohamed el-Tayeb und die Mitglieder des Großrabbinats in Israel auf, Kiew zu besuchen, „um ihre Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung zu zeigen“.

Kiew solle die Hauptstadt der Menschlichkeit, der Spiritualität und des Friedens werden, sagt Vitali Klitschko weiter. AM Schluss ergreift auch Wladimir Klitschko das Wort und ergänzt: „Einheit ist der Schlüssel zu unserer Freiheit.“

Augenscheinlich deutete alles auf diesen Moment hin

Nichts in seinem Boxer- und Politiker-Leben hatte darauf hingedeutet, dass Klitschko jetzt als Chef einer belagerten Dreimillionenstadt täglich in den Bunkern, Kellern, U-Bahn-Stationen und Kliniken unterwegs ist, in denen die Kiewerinnen und Kiewer ihr Leben und das ihrer Mitmenschen zu retten versuchen. Dass er Plünderern mit Erschießung drohen muss, eine nächtliche Sperrstunde durchsetzt.

Aber es sieht zugleich so aus, als ob alles in seinem bisherigen Leben, als ob seine Herkunft und seine mögliche Zukunft auf diesen Moment hindeuteten.

Die Klitschkos wachsen als Offizierskinder der Sowjetarmee auf. Sein Vater Wladimir Rodionowitsch Klitschko brachte es bis zum Oberst der Luftstreitkräfte, später zum Generalmajor der Ukraine und Militärattaché in Berlin und Brüssel. Er starb 2011 mit 64 Jahren, sehr wahrscheinlich an den Spätfolgen seines Tschernobyl-Einsatzes 1986, und wurde als Held begraben. Mutter Nadeschda Uljanowa ist die Tochter einer Holocaust-Überlebenden. Man sprach russisch. Vitali wurde in der kirgisischen Sowjetrepublik geboren, Wladimir in der kasachischen, erste Erfahrungen im Ring machte Vitali auf einem Stützpunkt in der Tschechoslowakei.

Ein Leben in Ländern, die es nicht mehr gibt. Eine Jugend mit einer Sprache, die er jetzt nur noch spricht, wenn er sich in Videobotschaften an die Menschen in Russland wendet, sie bittet und anfleht, etwas gegen Putins Krieg zu unternehmen.

1996 starten die Klitschko-Brüder ihre Boxkarriere in Deutschland. Hamburg wird ihre Heimat, aber was ist mit der Ukraine? „Deutschland hat mich adoptiert“, sagt Vitali Klitschko viel später, als er schon Wahlkampf in Kiew macht, „aber mein Herz schlägt für die Ukraine.“

Die neuen Gesichter Osteuropas

Für Millionen Deutsche wurden die Klitschkos in diesen Jahren die neuen Gesichter Osteuropas. Stark und gleichzeitig sanft und selbstironisch in ihren legendären Fernsehwerbespots. „Der Russe“ stand nicht mehr an der Elbe, er stand im Ring und kämpfte im deutschen Privatfernsehen um eine Millionengage. Er trug einen Doktortitel und führte ihn auch beim Boxen. „Dr. Eisenfaust“ hieß Vitali, Wladimir kämpfte als „Dr. Steelhammer“.

Dass diese slawischen Giganten Ukrainer waren, interessierte die Deutschen so wenig, wie sie sich um dieses neue Land irgendwo hinter Polen scherten. Wer sich ein bisschen kümmerte, konnte 2004 sehen, wie die Klitschko-Brüder in riesigen orangenen Sweatshirts an einer Revolution teilnahmen, die dieses Land aus den Fängen Moskaus und der Oligarchen Richtung Westen bringen sollte. Wer die Geschichte weiter verfolgte, registrierte, dass sich 2010 eine „Ukrainische demokratische Allianz für Reformen“ (UDAR) gründete, Parteichef Vitali Klitschko. „Udar“ heißt Schlag oder Fausthieb. War das ein Fanklub oder Politik?

Es sollte ernst werden. Wie ernst, zeigte sich spätestens 2014. Es gibt ein Bild, das besser als alle anderen den Mut und die Sturheit von Vitali Klitschko zeigt. Es stammt nicht aus den aktuellen Kriegstagen, auch nicht aus dem Juni 2003 , aus dem Ring in Las Vegas beim Kampf gegen Lennox Lewis, als „Dr. Eisenfaust“ mit einem blutenden Cut über dem Auge unbedingt weitermachen will und außer sich ist, als der Ringrichter den Kampf abbricht.

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Zwei Brüder, ein gemeinsamer Weg: Wladimir (l) und Vitali Klitschko.

Die Szene mit der meisten Symbolik stammt eben aus dem Januar 2014, an der Schwelle von Klitschkos Wandlung vom Ex-Boxer zum ernstzunehmenden Politiker. Kiew ist seit Monaten im Aufruhr, die Forderungen der Revolutionäre auf dem Maidan-Platz in Kiew werden Tag für Tag radikaler. Es sind Klitschkos Unterstützer, eigentlich. Wie er stehen sie für einen westlichen Kurs der Ukraine und gegen den korrupten, russlandtreuen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Klitschko soll das Gesicht dieser Demokratisierung, dieser Annäherung an die EU sein. Dafür haben ihn Angela Merkel, die CDU und die Europäische Volkspartei seit Jahren unterstützt.

Am Konferenztisch gecoacht

Merkels Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und ihr außenpolitischer Berater Christoph Heusgen haben Klitschko gecoacht, nicht mehr in der Ringecke, sondern am Konferenztisch. Ihnen gefällt vor allem seine Besonnenheit. Auf dem Maidan aber eskaliert die Lage an diesem 19. Januar 2014. Mit Steinen, Holzlatten, Molotowcocktails suchen Revolutionäre die Straßenschlacht mit Janukowitschs Sicherheitskräften.

Klitschko drängt sich in die Menge, zwei Meter groß, nicht zu übersehen. Er versucht zu beruhigen. Er hat zwar am Anfang der Maidan-Revolution mit einigen der Radikalen paktiert, mit der rechtsradikalen Partei „Swoboda“ zum Beispiel. Aber nun muss er versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Aus nächster Nähe wird er mit einem Feuerlöscher attackiert. Sein Angreifer sprüht eine volle Schaumladung auf Klitschko. Und dann schießt ein Fotograf das symbolische Bild: Grauweißer Schaum auf Jacke, Haaren und Gesicht hält Klitschko mit groben Handschuhen einen der Unruhestifter fest. Nicht um ihn zu attackieren, sondern um ihm ins Gewissen zu reden.

An diesem Tag im Januar verliert Klitschko. Im Februar erschießen Janukowitschs Einheiten Dutzende Menschen auf dem Platz. Vier Monate später aber wird Klitschko, mit Unterstützung des Maidan, zum Bürgermeister von Kiew gewählt. 2015 und 2020 wird er von den Bürgerinnen und Bürgern der ukrainischen Hauptstadt im Amt bestätigt. In Hamburg verfolgt Bernd Bönte jede Nachricht über seine langjährigen Freunde und Geschäftspartner. Bönte war viele Jahre lang Manager der Klitschko-Brüder. Nun muss er hilflos mit ansehen, wie sie und ihr Land in Todesgefahr sind. „Ich bin fassungslos und tief traurig über diesen Krieg“, sagt Bönte am Telefon. „Ich habe bald zwei Jahrzehnte mit den Klitschkos verbracht, ich war mit ihnen zig Mal in Kiew, Lwiw, Donetsk zu Besuch. Ich habe viele Freunde in der Ukraine gefunden und mache mir natürlich furchtbare Sorgen um sie.“

„Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich“

In Kiew sagt Vitali Klitschko in die Kamera: „Wenn ich sterben muss, dann sterbe ich. Es ist eine Ehre, für sein Land zu sterben.“ Bei Boxen braucht es starke Worte für die Kameras, für die Show, um den Gegner einzuschüchtern. Jetzt geht es um Leben und Tod.

Bernd Bönte bangt um seinen Freund, aber er sagt auch: „Der Kampfeswille, den Vitali und Wladimir jetzt zeigen, hat mich nicht überrascht. Wer sie 2004 während der Orangenen Revolution erlebt hat, wer sie 2014 beim Euromaidan erlebt hat, wo Vitali in vorderster Front sein Leben riskiert hat, der kann nicht überrascht sein.“ Und die beiden hätten keine andere Wahl: „Die Ukraine ist seit vielen Jahren auf dem Weg in die Freiheit, auf dem Weg zu einer wirklichen Demokratie. Wenn sie diesen Krieg verliert, wird sie ein Satellitenstaat Russlands und der ganze Weg war umsonst. Deswegen bleibt den beiden, deswegen bleibt den Ukrainern keine andere Möglichkeit als zu kämpfen.“

Sie sind nicht die einzigen ukrainischen Weltstars, die die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Schrecken von Putins Überfall lenken. Der aktuelle Schwergewichtsweltmeister Oleksander Usyk hat alle Kampf-Planungen auf Eis gelegt, ist nach Kiew gereist und der Territorialverteidigung beigetreten. Vasiliy Lomachenko, auch er ukrainischer Boxstar, ist in seine Heimat nahe Odessa gereist und zieht nun ebenfalls in den Krieg. Nicht nur auf den Titelseiten, auch in den Boxforen wird deswegen nun über den Widerstand der Ukrainer gegen Putin berichtet. Und die Klitschkos lassen ohnehin all ihre Kontakte spielen.

Hilfsgüter im Wert von mehr als 1,5 Millionen Euro sind bereits auf dem Weg in die Ukraine, berichtet Tatjana Kiel von Wladimirs Hamburger Firma Klitschko Ventures. Der Name Klitschko öffnet Türen bei Firmen wie Rossmann, Asklepios und der Deutschen Bahn. In Kiew schickt Wladimir ein Video aus einem Lagerhaus, zeigt die gerade eingetroffenen Paletten und dankt den Freunden im Westen.

Lob von Elon Musks Bruder

Auf einem anderen Bild posieren Vitali und Wladimir vor Empfangsgeräten für Elon Musks Starlink-Satelliten. Musks Bruder Kimbal feiert auf Twitter die „bad ass Klitschko brothers in Kyiv“, „bad ass“ ist natürlich als Lob gemeint und ist nur unzureichend mit „knallhart“ zu übersetzen.

Vitalis Frau, die Sängerin Natalia Klitschko, demonstriert in Hamburg und singt in der NDR Talk Show. Sie ruft die russischen Frauen dazu auf, ebenfalls gegen den Krieg aufzustehen. „Nicht für uns, für die Ukraine, aber um ihre Söhne zu schützen.“ Vor Kurzem hatte sie bereits auf Instagram geschrieben: „Es ist Zeit für die Frauen, zusammenzustehen und so laut wir können zu rufen: Wir wollen keinen Krieg! Wir wollen nicht den Tod unserer Kinder, Ehemänner, Brüder und Väter!“ Im NDR sagte sie nun: „Das russische Volk hat keinen Mut. Sie sagen, wir können nicht auf die Straße gehen, wir werden verhaftet. Aber wenn ihr alle auf die Straße geht, das ganze Land, wird nicht genug Platz in den Gefängnissen sein.“

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Auffällig ist, dass die Klitschkos und Präsident Wolodymyr Selenskyj den Kampf um die Weltöffentlichkeit unverbunden nebeneinander führen. Sie sind politische Konkurrenten; vor dem Krieg rechnete man damit, dass Klitschko bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gegen Selenskyj antreten wird. Nun führen der Ex-Schauspieler und der Ex-Boxer beide auf ihre Weise einen Kampf. Um die globale Aufmerksamkeit. Und um eine Zukunft für die Ukraine. (mit lsc)

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