Interview mit Friedrich Merz„Wir dürfen keine Anreize zur Bleibe geben, wenn kein Bleiberecht besteht“

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Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender (Archivbild)

Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender (Archivbild)

Im Interview fordert Oppositionsführer Friedrich Merz eine Begrenzung der Leistungen für abgelehnte Asylbewerber. Außerdem dämpft der CDU-Chef die Erwartungen an die europäische Asylreform - und hat eine ganz bestimmte Vorstellung, was der Bundeskanzler genau jetzt machen muss.

Herr Merz, die Migrationsfrage überlagert aktuell alle anderen politischen Themen. Einmal ein Blick voraus, raus aus dem aktuellen politischen Streit: Wo muss Deutschland bei dem Thema in zehn Jahren stehen?

Friedrich Merz: Ich hoffe, dass wir uns in zehn Jahren noch stärker daran gewöhnt haben, für qualifizierte Fachkräfte ein Einwanderungsland mit hoher Integrationskraft zu sein. Und ich hoffe, dass wir die Grenzen der illegalen Migration aufzeigen und auch einhalten werden – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Ist das Thema Migration entscheidend für die Stabilität unserer Demokratie?

Ja. Die Migrationsdebatte ist vor allem eine sozialpolitische Frage. Die Auswirkungen, die durch unregulierte Einwanderung entstehen, erreichen einen großen Teil der Bevölkerung bereits jetzt. Bei Kitas, Schulplätzen, Wohnungen und ärztlicher Versorgung ist der starke Zuzug schon deutlich spürbar.

Zugespitzte Aussagen sind manchmal nötig, um einen Sachverhalt in die Mitte der politischen Diskussion zu rücken.
Friedrich Merz

Ihre Aussage zu abgelehnten Asylbewerbern und Zahnersatz hat heftige Kritik ausgelöst. Warum sorgen Sie mit Ihren polemischen Formulierungen immer wieder dafür, dass die Debatte am Ende über Sie geht und nicht über die Sache?

Den Eindruck teile ich nicht. Seit vergangener Woche diskutieren wir darüber, warum in Deutschland abgelehnte Asylbewerber nach 18 Monaten Aufenthalt in Deutschland Leistungen wie gesetzlich Krankenversicherte erhalten. Zugespitzte Aussagen sind manchmal nötig, um einen Sachverhalt in die Mitte der politischen Diskussion zu rücken.

Es gibt unbestritten eine starke Belastung des Gesundheitssystems, aber Ihr Zahnarztbeispiel hat die Diskussion verengt. Trauen Sie den Menschen nicht zu, dass sie einer differenzierten Debatte folgen können?

Es wäre schön, wenn eine differenzierte Debatte geführt würde. Aktuell erreichen wir – Politik und Medien – die Lebenswirklichkeit vieler Menschen im Land nicht, die durch Migration von Einschränkungen massiv betroffen sind.

Auch CDU-Politiker beschweren sich hinter vorgehaltener Hand, dass Sie die Debatte unnötig verschärft hätten und so die Konstruktivität verloren gegangen sei.

Das werden wir sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Ampelkoalition nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern zur Vernunft kommt und unsere seit Wochen ausgestreckte Hand für einen gemeinsamen Asylkompromiss ergreift. Wie lange will der Bundeskanzler eigentlich noch warten, das Angebot, das er selbst unterbreitet hat, zu konkretisieren? Heute ist Tag 30 des Deutschlandpakts. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten Antworten von der Politik.

Was sind die wichtigsten Punkte, die aus Ihrer Sicht in der Migrationspolitik geändert werden müssen?

Wir brauchen stationäre Grenzkontrollen, Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen, konsequente Rückführungen in die Herkunftsländer, Sach- statt Geldleistungen und eine grundsätzliche Begrenzung der Transferleistungen für abgelehnte Asylbewerber.

Was konkret heißt das für deren Gesundheitsversorgung?

Die Botschaft an die 300.000 abgelehnten Asylbewerber lautet aktuell: Ihr müsst nur lange genug bleiben, dann geht es euch in Deutschland immer besser. Das müssen wir korrigieren. Der Spielraum des Bundesverfassungsgerichts sollte genutzt werden: Aktuell wird die Unterstützung für Asylbewerber im Asylbewerberleistungsgesetz nach 18 Monaten stark ausgeweitet. Dieser Zeitraum sollte auf mindestens drei Jahre verlängert werden. Wir dürfen keine Anreize zur Bleibe geben, wenn kein Bleiberecht in Deutschland besteht.

Wann würden die von der Union geforderten Maßnahmen für eine spürbare Eindämmung sorgen?

Mit den richtigen Maßnahmen gehen die Zahlen schnell nach unten, das haben wir schon nach 2016 gesehen. Die Migration quer durch Europa nach Deutschland wird ein Problem bleiben. Aber zentral ist, dass wir den Trend umkehren. Wir werden in diesem Jahr mehr als 300.000 Asylbewerber verzeichnen. Das ist zu viel.

Gilt das Prinzip Humanität und Ordnung noch, das in der Union schon in der ersten Flüchtlingskrise ab 2015 ausgegeben wurde?

Wir haben das Prinzip sogar vor einigen Monaten in der Bundestagsfraktion beschlossen – unter meiner Führung. In dieser Klarheit ist es meines Wissens noch nie formuliert worden.

Ob wir unseren Wohlstand erhalten werden oder nicht, hängt davon ab, ob die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt und ob es gelingt, die klimaneutrale Transformation zur positiven Erzählung zu entwickeln.
Friedrich Merz

Also wir können uns an Reden und Interviews mit Angela Merkel und Horst Seehofer erinnern, bei denen genau diese Worte gesagt worden sind.

Das ist doch schön und zeigt an dieser Stelle die Kontinuität in der Union. Wir haben es jetzt allerdings auch aufgeschrieben und mit den notwendigen Maßnahmen unterlegt. Die wollen wir auch konsequent durchsetzen.

Was erwarten Sie von Kanzler Scholz?

Der Bundeskanzler muss eine klare Botschaft nach draußen senden, die auch in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ankommt: Dass Deutschland nicht mehr in der Lage ist, Menschen ohne Asylgrund aufzunehmen. Diese Botschaft ist notwendig, um ein klares Signal an die Menschen zu geben, die sich jetzt erst auf den Weg machen wollen. Im Augenblick entsteht dort der gegenteilige Eindruck, dass wir praktisch unbegrenzt aufnahmebereit sind.

Also wie die US-Vizepräsidentin Harris, die Flüchtlingen wörtlich sagte: „Kommen Sie nicht her“?

Ja.

Aktuell arbeitet die EU an einer Asylreform. Unter welchen Umständen wird sie Wirksamkeit entfalten können?

Wir sollten uns von der Reform nicht zu viel erwarten. In Europa mahlen die Mühlen langsam: Wenn die Einigkeit der EU-Innenminister irgendwann da ist, stehen die mühsamen Verfahren der EU an. Die Reform muss durch Kommission, Parlament, Rat und Trilog. Angesichts der Äußerungen der deutschen Grünen lässt sich bezweifeln, ob es im Europäischen Parlament überhaupt eine Mehrheit gibt. Ich rechne vor Mitte kommenden Jahres nicht mit einer gemeinsamen europäischen Position. Die Reform ist ein Mosaikstein, ein wichtiger zwar, aber es braucht begleitend auch nationale und innenpolitische Maßnahmen.

Wenn der Bund nicht für eine Verringerung des Zuzugs sorgt, muss er zumindest die Versorgungskosten finanzieren.
Friedrich Merz

Zur Integration: Die Kommunen geraten an ihre Grenzen. Der Bund will ihnen die Mittel kürzen. Welche finanzielle Unterstützung braucht es seitens des Bundes?

2016 haben die Länder und Kommunen 9 Milliarden Euro vom Bund für die Flüchtlingsversorgung erhalten. Im laufenden Jahr waren es 3,75 Milliarden und für das nächste Jahr sind nur 1,7 Milliarden Euro vorgesehen – bei steigenden Flüchtlingszahlen. Das geht nicht: Wenn der Bund nicht für eine Verringerung des Zuzugs sorgt, muss er zumindest die Versorgungskosten finanzieren.

Zur Lage der Wirtschaft: Die Inflation ist abgebremst. Gleichzeitig warnt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm vor Wohlstandsverlust. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ob wir unseren Wohlstand erhalten werden oder nicht, hängt davon ab, ob die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt und ob es gelingt, die klimaneutrale Transformation zur positiven Erzählung zu entwickeln. In meinen Worten: Deutschland verursacht zwei Prozent des Problems, könnte aber 20 Prozent zur Lösung beitragen. Das schaffen wir nur mit modernen Technologien, die bei uns Wachstum und Wohlstand schaffen, sodass wir zum Vorbild für andere Länder werden. Wir brauchen mehr emissionsarme Energiequellen. Die Ampelregierung setzt nur auf Sonne und Wind. Das reicht nicht.

Sie meinen auch Atomstrom?

Ich halte die Abschaltung der letzten drei Atommeiler nach wie vor für einen Fehler.

Die hohen Strompreise setzen Mittelstand und die Industrie unter Druck. Braucht es einen Industriestrompreis?

Bevor wir über Subventionen für den Strompreis nachdenken, müssen zunächst staatliche Auflagen und Kosten wie Netzentgelte, Mehrwertsteuer und Stromsteuer runter. Für die energieintensive Industrie muss der Spitzenausgleich erhalten bleiben, mit dem sich die Unternehmen bis zu 90 Prozent der Energie- und Stromsteuer erstatten lassen können. Zudem muss das Stromangebot ausgeweitet werden. Bevor man also einen Brückenstrompreis beschließt, gibt es eine ganze Reihe von Maßnahmen, die die Strompreise senken könnten.

Aktuell erleben Verbraucherinnen und Verbraucher das Phänomen der sogenannten Gierflation: Unternehmen reiten die Welle der Inflation und legen noch etwas drauf.

Das ist leider kein neues Phänomen. Aber es lässt sich mit Wettbewerb eindämmen, dann sinken die Preise auch wieder etwas. Ich bin beim Einkaufen selbst immer wieder überrascht, wie teuer Lebensmittel geworden sind. Daher kann ich verstehen, wenn Menschen wegen der Lebenshaltungskosten besorgt sind. Wir müssen auch darüber reden, wie stark Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Steuer- und Sozialabgaben belastet werden. Die Schere zwischen Brutto und Netto ist zu groß.

Wo sehen Sie Spielraum bei den Sozialbeträgen?

Es droht eine Überlastung des Sozialstaats, das hängt mit den Transferleistungen zusammen. Mit dem Bürgergeld, das viele Milliarden kostet, fragen sich viele Menschen, ob es sich überhaupt noch lohnt zu arbeiten. Es braucht mehr Leistungsanreize, deswegen wollen wir Überstunden steuerfrei stellen und Rentnern steuerfreies Weiterarbeiten ermöglichen.

Mit dem Bürgergeld, das viele Milliarden kostet, fragen sich viele Menschen, ob es sich überhaupt noch lohnt zu arbeiten.
Friedrich Merz

Woran liegt es, dass die Bevölkerung der Ampel zwar schlechte Werte gibt, die Union aber nur bei unter 30 Prozent verharrt?

Die SPD, die früher neben uns die zweite Volkspartei war, kann von unseren Werten nur träumen. Die Union ist zurzeit fast so stark wie SPD und Grüne zusammen.

Sie können doch nicht zufrieden sein.

Das habe ich auch nicht gesagt. Aber Sie müssen die Umfragewerte im Kontext betrachten. Klar ist: Wir müssen und wollen noch besser werden: Deshalb werden wir nach den Landtagswahlen am Sonntag sehr genau die Wählerwanderung analysieren und darauf Antworten finden.

Die CDU kann nicht mal ein Imagevideo erstellen lassen, ohne in ein Fettnäpfchen zu treten. Was muss sich im Adenauerhaus in Sachen Kampagnenfähigkeit ändern?

Der Imagefilm ist bis auf eine kleine Panne richtig gut gewesen.

Es waren zwei Pannen: der georgische Präsidentenpalast und das Vergessen von Altkanzlerin Merkel.

Dann halt zwei kleine, die letztere wurde ja direkt bemerkt und korrigiert. Fehler passieren leider und wir arbeiten alle gemeinsam dran, dass es in Zukunft noch besser läuft. Die CDU ist ein großer, schwerer Tanker, den bewegen Sie nicht wie ein Schnellboot. Wenn Kurskorrekturen notwendig sind, müssen sie behutsam vollzogen werden.

Der Imagefilm ist bis auf eine kleine Panne richtig gut gewesen.
Friedrich Merz

Mit Blick auf die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen liegt noch ein ganzes Stück Arbeit vor Ihnen. Die AfD steht in den drei Ländern auf Platz eins.

Die einzige richtige Antwort darauf sind Themen, Themen, Themen und überzeugende Persönlichkeiten. So wie es in Sachsen mit Michael Kretschmer gelingt, muss es auch in Thüringen und Brandenburg gelingen. Daran werden die Bundespartei und die Landesverbände arbeiten. Mit den Landesverbänden im Osten Deutschlands werde ich diese strategischen Fragen besprechen.

Die gesellschaftliche Debatte in den ostdeutschen Bundesländern ist aufgeheizt. Muss die Union einen Beitrag zur Versachlichung leisten?

Das ist eine Aufgabe für alle demokratischen Parteien. Wir müssen vor allem dafür werben, dass die Demokratie von Kompromissen lebt. Parteien ganz links und ganz rechts wollen Forderungen mit einer Rigorosität durchsetzen, die mit Demokratie relativ wenig zu tun hat.

Wir müssen vor allem dafür werben, dass die Demokratie von Kompromissen lebt.
Friedrich Merz

Wird man von Ihnen auch als Kanzlerkandidat der Union häufig mitunter polemische Formulierungen hören, über die die ganze Nation eine Woche diskutiert?

Sie werden von mir immer klare Formulierungen hören. Und wir beschäftigen uns im Augenblick nicht mit Personalfragen, sondern mit der inhaltlichen Aufstellung der CDU.

Im Herbst 2024 steht die Beantwortung der K-Frage an. Werden Sie alle Landesverbände miteinbeziehen?

Die Entscheidung der Kanzlerkandidatur liegt zunächst bei den beiden Parteivorsitzenden von CDU und CSU. Wir werden einen Vorschlag machen, der hoffentlich breite Zustimmung findet. (RND)

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