Modelliererin SchöbelOmikron-Welle „wird stärker als alles, was wir bisher hatten“

Lesezeit 7 Minuten
Omikron Analyse 231221

PCR-Analyse-Programm

Anita Schöbel leitet das Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik der Fraunhofer-Gesellschaft. Dort entwickelt ein Forschungsteam auf Basis mathematischer Modelle Szenarien zum weiteren Pandemieverlauf. Im Gespräch mit dem RND macht die Modelliererin deutlich: Es bräuchte schnell ein deutlicheres Zeichen aus der Politik. Sonst lasse sich die Omikron-Welle kaum verlangsamen.

Frau Schöbel, maximal zehn Leute auf einmal treffen, geschlossene Clubs, keine Großveranstaltungen, 2G und Homeoffice: Reichen die politisch beschlossenen Maßnahmen, um die erwartete Omikron-Welle zu kontrollieren?

Ich befürchte nicht. Das sind zwar keine falschen Maßnahmen, aber sie gehen nicht weit genug, um die Welle abzublocken. Ich hätte mich über ein deutlicheres Zeichen der Politik gefreut. Es ist realistisch, dass wir trotzdem schon Anfang Januar sehr hohe Fallzahlen haben. Es ist zu befürchten, dass dann wieder die Notbremse gezogen werden muss, damit unser Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur nicht überlastet werden. Auch auf freiwilliger Basis werden sich wahrscheinlich noch mehr Menschen einschränken, weil in ihrem Bekanntenkreis ständig jemand Corona hat.

Was ist das Ziel, wieso die Politik schon jetzt strikter vorgehen sollte?

Es zählt jetzt wirklich jeder Tag zum Impfen und Boostern. Das ist das Einzige, was auf längere Sicht wirklich effektiv ist. Dafür brauchen wir aber Zeit, und die verschaffen uns möglichst frühe und wirksame Maßnahmen. Es ist auch keine gute Idee, über die Feiertage die Impfzentren zu schließen. Über Weihnachten und Silvester werden sich dann auch noch viele soziale Gruppen vermischen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wieso ist das Boostern so entscheidend?

Wenn man zweimal geimpft ist, hat man nur noch einen geringen Schutz vor Omikron. Wenn man aber geboostert ist, hat man nach bisherigen Einschätzungen immerhin einen 75-prozentigen Schutz vor symptomatischer Erkrankung. Wenn wir also hundert Menschen boostern, vermeiden wir 75 Fälle, die krank werden. Das ist zwar nicht mehr so gut wie bei Delta, denn auch ein Teil der Geboosterten kann erkranken und das Virus weitergeben. Aber es ist immer noch besser als nichts.

Denn je mehr Menschen geboostert sind, umso weniger landen im Krankenhaus und umso weniger stecken andere an. Leider sind aktuell aber noch nicht einmal die Hälfte derjenigen geboostert, bei denen das möglich wäre. Wenn wir dafür noch den ganzen Januar brauchen, sind wir auf jeden Fall hinter der Welle.

Bis Erst- und Zweitimpfungen ihren Schutz entfalten, vergehen sechs Wochen. Ist trotzdem noch darauf zu hoffen, dass sich Menschen jetzt für die Impfung entscheiden?

Der zeitliche Faktor ist ein Problem. Trotzdem ist es auch jetzt immer noch sinnvoll, sich für eine erste Impfung zu entscheiden. Innerhalb von zwei Wochen baut sich immerhin schon ein bisschen Immunschutz auf. Das ist besser als nichts.

Das Robert Koch-Institut hat am Dienstag „maximale Kontaktbeschränkungen“ empfohlen. Dazu zählen auch Schließungen von Restaurants, nur notwendige Reisen, Wechsel- und Distanzunterricht in Schulen und Unis. Braucht es also eigentlich doch schon jetzt einen harten Lockdown?

Das Problem wird größer, wenn man länger wartet. Ich halte die Empfehlungen vom RKI daher für richtig. Aus epidemiologischer Sicht sind die vorgeschlagenen Maßnahmen sinnvoll. Aber auch für die Gesellschaft, auch wenn die Einschränkungen frustrierend sind. Wenn wir abwarten, kommen wir noch in ganz andere Situationen. Diese Welle wird stärker sein als alles, was wir bisher hatten. Schon durch Delta sind viele Kliniken am Anschlag. Der Expertenrat hat gesagt, dass jetzt auch die kritische Infrastruktur ausfallen kann. Das ist wirklich nicht unwahrscheinlich. Omikron verbreitet sich so viel schneller als andere Varianten. Wir sehen einer sehr stressigen Zeit entgegen. Die Kurve zumindest etwas abzuflachen ist dringend notwendig.

Schöbel: „Jede Kontaktreduktion hilft“

Das geplante Weihnachtsessen im Restaurant, Zusammentreffen mit Freunden an Silvester, noch einmal in den Club, bevor alles schließt – wäre das jetzt noch vertretbar?

Jede Kontaktreduktion hilft. Es wäre das falsche Signal, jetzt zu sagen, man müsse sich noch keine Sorgen machen, nur weil die Omikron-Welle aktuell nicht sichtbar ist. Das geht jetzt ganz schnell. Die Daten zeigen, dass sich die Fallzahlen bei dieser Variante ungefähr alle drei Tage verdoppeln. Vermutlich haben wir in Deutschland schon jetzt deutlich mehr Omikron-Fälle, aber gehen wir mal von 2000 am 21. Dezember aus. Dann gibt es an Weihnachten 4000, drei Tage später 8000, am 30. Dezember dann 16.000, am 2. Januar 32.000, am 5. Januar 64.000 Neuinfektionen.

Kann man schon absehen, wie viele Kranke und Tote es in den kommenden Wochen geben wird?

Schätzungen und konkrete Zahlen sind schwierig. Aber das wird auf jeden Fall die schwerwiegendste Welle in der bisherigen Pandemie. Wir haben unsere Modellierungen miteinander verglichen, zum Beispiel Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Kai Nagel von der Technischen Hochschule Berlin und ich. Wir kommen alle auf besorgniserregende Zahlen. Es lässt sich aber schwer vorhersagen, wann genau der Höhepunkt der Omikron-Welle sein wird.

Wovon hängt das ab?

Das kann Ende Februar sein, aber auch später. Das hängt daran, welche Maßnahmen die Politik beschließt, wie sich die Bevölkerung verhält und wie die Impfungen vorankommen. Wenn man einen strengen Lockdown macht, wird die Welle flacher, aber auch länger dauern. Ganz ohne Maßnahmen wird sie unglaublich schmerzhaft werden, aber kurz.

Gibt es weitere Gründe, wieso es schwierig ist, den Verlauf genau abzuschätzen?

Wir wissen, dass Omikron viel ansteckender ist, aber nicht genau, um welchen Faktor. Und es ist noch unklar, wie krank Omikron macht. Wir werden aber wahrscheinlich mehr Tote sehen als Südafrika. Erste Daten aus England weisen darauf hin, dass es bei Omikron ähnlich viele Krankenhauseinweisungen gibt wie bei Delta. Und Deutschland hat eine ältere Bevölkerung und sehr viele Menschen, die gar nicht geimpft sind oder noch keinen Kontakt mit dem Virus hatten.

Rund ein Viertel der zweifach Geimpften wird sich infizieren

Klar ist also nur, dass sich bis ins Frühjahr sehr viele Menschen mit Omikron anstecken werden, oder?

70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind zweifach geimpft. Bei Omikron ist damit zu rechnen, dass sich rund ein Viertel der Geimpften infiziert. Dazu kommen noch alle Ungeimpften, die sich sehr wahrscheinlich in den kommenden Wochen anstecken werden. Das sind 30 Prozent der Bevölkerung. Rechnet man das zusammen, inklusive bisher Geboosterter, kommt man zum Ergebnis: In der Omikron-Welle können sich fast 50 Prozent der Bevölkerung hierzulande infizieren.

Die müssen zwar nicht alle ins Krankenhaus. Aber was auch der Expertenrat befürchtet: Wenn plötzlich die Hälfte der Menschen coronabedingt ausfällt, funktioniert nicht mehr viel in Deutschland. Deshalb ist es die politische Aufgabe, sich zu überlegen, wie man die Ansteckungen über einen längeren Zeitraum verteilt und möglichst schnell möglichst viele Menschen boostert.

Geboostert und getestet aufeinandertreffen: Ist das in dieser Pandemiephase womöglich das neue 2G?

Zweifach geimpft zu sein und getestet reicht oft nicht aus, um Ausbrüche zu verhindern. Leider ist Omikron sehr radikal. Auch unter Geboosterten kann das passieren, aber eben weniger wahrscheinlich. Und auch bei Geboosterten gilt: Je kleiner der Kreis, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass man sich ansteckt oder das Virus weiterträgt. Ich denke zum Beispiel, dass man als geboosterte Person an Weihnachten nicht ganz auf Kontakte verzichten muss. Aber fairerweise macht man vor dem Treffen einen Test. Es ist eben nicht mehr so entspannt wie bei Delta.

Corona-Wellen nicht für immer

Es kommt nun also die fünfte Corona-Welle. Hört das eigentlich irgendwann mal auf?

Der Virologe Christian Drosten klang da zuletzt recht optimistisch, dass Coronaviren nicht beliebig in unterschiedliche Richtungen mutieren können. Wahrscheinlich ist, dass das Virus unter uns immer weiter zirkulieren wird. Im besten Fall ist zu hoffen, dass wir als Gesellschaft irgendwann einen ausreichend guten Immunschutz haben, die meisten nur noch mild erkranken und sich vulnerable Gruppen ab und an nachimpfen.

Mal angenommen, nach Omikron käme keine neue besorgniserregende Variante mehr – könnten wir uns dann nach dieser Winterwelle ohne starke Beschränkungen dem Virus stellen?

Vermutlich wäre das so. Omikron ist so ansteckend, dass nun relativ flott alle Menschen Kontakt zum Virus haben werden. Danach sind alle entweder genesen oder geimpft oder beides.

KStA abonnieren