„Finanzielle Sorgen sind typische Risikofaktoren“Warum werden immer mehr Fälle häuslicher Gewalt gemeldet?

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Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht.

Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht.

Im RND-Interview erklärt Expertin Janina Steinert welche Rolle die Inflation, Corona-Pandemie und hohe Dunkelziffer bei den Zahlen spielen könnten.

Das Bundeskriminalamt hat mehr Fälle von Gewalt in der Partnerschaft registriert. Werden wirklich immer Menschen in der Beziehung handgreiflich oder holen sich Betroffene inzwischen häufiger Hilfe? Expertin Janina Steinert forscht zu häuslicher Gewalt und erklärt im RND-Interview, welche Rolle die Inflation, Corona-Pandemie und hohe Dunkelziffer bei den Zahlen spielen könnten.

Eine Grafik zeigt Opfer häuslicher Gewalt seit 2018 nach Geschlecht.

Die Bundesregierung und das Bundeskriminalamt stellen ein Lagebild für häusliche Gewalt vor: Opfer häuslicher Gewalt seit 2018 nach Geschlecht.

Frau Prof. Steinert, es ist eine besorgniserregende Entwicklung: Im Jahr 2022 gab es Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) zufolge 157.550 gemeldete Fälle von Gewalt in Partnerschaften in Deutschland, also einen Anstieg von 9,4 Prozent. Kommt es wirklich immer häufiger zu Gewalt in der Beziehung?

Es ist zunächst wichtig zu betonen, dass das nur die Fälle sind, die den Behörden offiziell vorliegen. Die Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs: Sie können uns nur wenig Aufschluss darüber geben, wie viele Fälle von häuslicher Gewalt es wirklich in Deutschland gibt, weil der Großteil der Betroffenen sich nie aktiv an die Polizei wendet.

Erneut deutlicher Anstieg im Vergleich zum Corona-Jahr

Wie erklären Sie sich aber den erneuten großen Anstieg der gemeldeten Fälle, nachdem es laut BKA auch schon im Corona-Jahr 2020 eine deutliche Zunahme gegeben hat?

Der Anstieg im Jahr 2022 ist sicherlich anders zu erklären als der im Jahr 2020. Damals wurde der Anstieg vor allem in Zusammenhang mit der Pandemie und den Lockdownmaßnahmen gesehen: Betroffene hatten weniger Möglichkeiten, einem gewalttätigen Partner zu entkommen und obendrein weniger soziale Kontakte, mit denen sie über die Gewalt sprechen konnten. Für das vergangene Jahr haben wir noch keine Erklärung, keine erforschten kausalen Zusammenhänge für die Entwicklung. Was jedoch in der Forschung zu Partnerschaftsgewalt bekannt ist: Eine prekäre finanzielle Situation und ökonomische Sorgen sind typische Risikofaktoren. Und davon waren während der Corona-Pandemie und auch im vergangenen Jahr durch den Krieg in der Ukraine viele Menschen betroffen.

Finanzielle Sorgen und Schwierigkeiten in der Beziehung können also dazu beitragen, dass Partner gewalttätig werden? Wie kann das sein?

Das ist schwer zu sagen, aber es gibt zumindest einige Erklärungsansätze. Psychische Belastungen, die oft mit finanziellen Sorgen einhergehen, können Studien zufolge zu mehr Aggression und folglich mehr Konflikten führen. Denkbar ist auch, dass manche Personen aufgrund von finanziellen Sorgen und Ängsten mehr Alkohol trinken und dadurch das Aggressionspotenzial steigt. Allerdings gibt es noch keine guten und verlässlichen Studien, die die ganze Kausalkette beschreiben. Wir wissen jedoch, dass es ein sehr altes Phänomen ist: Etwa zeigen Daten zur berühmten Wirtschaftskrise, der „Great Depression“, in den 1920er-Jahren in den USA, dass in Zeiten finanziellen Drucks und wirtschaftlicher Ängste die Fälle von häuslicher Gewalt zunehmen.

Weitere mögliche Faktoren für gestiegene Fallzahlen

Lassen sich die aktuellen gestiegenen Fallzahlen auch durch weitere Faktoren erklären?

Eine andere mögliche Entwicklung wäre, dass durch die öffentliche Debatte über häusliche Gewalt im Zuge des hohen Anstiegs während der Corona-Lockdowns inzwischen mehr Fälle gemeldet werden. Sprich: Weil für das Thema mehr Bewusstsein geschaffen wurde, könnten sich mehr Betroffene Hilfe geholt und sich an die Polizei gewendet haben. Aber auch wenn das der Fall sein sollte, wäre die Dunkelziffer sehr wahrscheinlich immer noch hoch.

Mit der Dunkelziffer beim Thema häusliche Gewalt hatten Sie sich bereits in einer Studie auseinandergesetzt, die Sie zu Beginn der Pandemie durchgeführt haben. Was haben Sie dabei erfahren?

Wir hatten eine repräsentative Stichprobe von Frauen befragt, ob sie Gewalt in der Partnerschaft erlebt haben – und ob sie sich deswegen Hilfe gesucht haben, etwa in einem Frauenhaus, bei einer Telefonhotline oder bei der Polizei. Dabei kam heraus, dass sich in den ersten Monaten der Pandemie weniger als 10 Prozent der Betroffenen Hilfe gesucht haben. Und solche Fälle von häuslicher Gewalt kommen in den offiziellen Zahlen des BKA wie gesagt nicht vor.

Finanzielle Abhängigkeit spielt oft eine große Rolle

80 Prozent der von Gewalt in der Partnerschaft betroffenen Menschen waren 2022 laut BKA Frauen. Warum holen sich viele Frauen keine Hilfe, wenn sie zum Beispiel von ihrem Partner geschlagen werden?

Auch hier spielt die finanzielle Situation oft eine große Rolle: Wenn eine Frau finanziell von ihrem Partner abhängig ist, ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer, dass sie eine gewalttätige Partnerschaft verlässt. Und wenn das Paar gemeinsame Kinder hat, ist ihre Situation noch komplizierter. Denn die meisten betroffenen Frauen wollen nicht, dass ihre Kinder Armut erfahren müssen, weil sie sich trennt. Viele Frauen haben Angst davor, finanziell ohne ihren Partner nicht klarzukommen – und folglich das Gefühl, dass alles noch schlimmer wird, wenn sie die Polizei rufen und den Partner verlassen.

Die Sorge scheint nicht immer unbegründet zu sein: Den Ergebnissen des BKA zufolge sind 40 Prozent der Gewalttäter die Ex-Partner.

Das zeigt vor allem, dass viele Partner auch nach der Trennung noch viel Einfluss auf ihre ehemaligen Partnerinnen haben – zum Beispiel wegen gemeinsamer Kinder oder finanzieller Abhängigkeiten. Womöglich führt dann auch Eifersucht beim Ex-Partner dazu, dass er gewalttätig wird. Etwa, wenn die Ex-Partnerin einen neuen Partner hat.

Partnerschaftsgewalt als Problem der gesamten Gesellschaft

Angesichts der hohen Zahl an gemeldeten Fällen – bundesweit wären es im Schnitt 430 pro Tag – stellt sich auch die Frage: Kommt es in bestimmten Teilen der Bevölkerung besonders häufig zu häuslicher Gewalt, oder haben wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun?

Grundsätzlich gibt es zwar Risikofaktoren wie finanzielle Sorgen, aber daraus kann man nicht schließen, dass häusliche Gewalt nur in ökonomisch schwachgestellten Partnerschaften vorkommt. Partnerschaftsgewalt ist ein Problem, das alle Teile der Gesellschaft betreffen kann. Während der Corona-Pandemie waren etwa auch Familien betroffen, die finanziell gut aufgestellt waren und in denen beide Partner berufstätig waren.

Somit bleibt Gewalt in der Partnerschaft ein noch immer weit verbreitetes Problem. Welche Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach dagegen helfen?

Wichtig ist, dass Intervention und Prävention vielschichtig sind – also an Opfer, an Täter, an Familien, das soziale Netzwerk adressiert sind und etwa auch Gendernormen ansprechen. Es sollten also nicht nur potentielle Betroffene – allen voran Frauen – darüber aufgeklärt werden, wie sie sich vor Gewalt in der Partnerschaft schützen können. Potentielle Täter müssen durch Präventionsarbeit frühzeitig ebenso davon abgehalten werden, gewalttätig zu werden. Etwa haben Männer, die schon in der Kindheit Gewalt erfahren haben, ein viel höheres Risiko, in Beziehungen gewalttätig zu werden. In der Täterarbeit ist das dann nur noch schwer zu adressieren, weil bereits in der Frühsozialisierung viel Schaden angerichtet wurde. Eine frühe Sensibilisierung für das Thema Partnerschaftsgewalt in der Schule könnte somit helfen.

Häusliche Gewalt: Hier wird Ihnen geholfen

Häusliche, psychische, physische und sexualisierter Gewalt oder auch Stalking, Mobbing kann jede und jeden treffen – auch in der Beziehung. Bitte holen Sie sich Hilfe und rufen Sie diese Hotlines an, wenn ihr Partner gewalttätig geworden ist.

Telefonische Beratung oder Hilfe per Chat Opfertelefon Weisser Ring: 116006, kostenlos, Montag bis Sonntag von 7 bis 22 Uhr www.weisser-ring.de

Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 116016, kostenlos, Montag bis Sonntag, 24 Stunden www.hilfetelefon.de

Hilfetelefon Gewalt an Männern: 0800 1239900, kostenlos, Montag bis Donnerstag 8 bis 20 und Freitag 8 bis 15 Uhr www.maennerhilfetelefon.de

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