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Wenn die Kamera einfach ausbleibtWas bringen Bodycams bei der deutschen Polizei?

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Bodycams sollen die Arbeit der Polizei überprüfen helfen: Sie helfen allerdings nur, wenn sie auch angeschaltet sind.

Der 8. August ist der letzte Tag im Leben des 16-jährigen Mouhamed Lamine D. Fünf Schüsse aus der Maschinenpistole eines Dortmunder Polizisten treffen den Jugendlichen in den Oberkörper. Der unbegleitete Geflüchtete aus dem Senegal stirbt wenig später bei einer Not-OP. Auch anderthalb Wochen danach beschäftigt der tödlich verlaufene Polizeieinsatz viele Menschen in ganz Deutschland. Sie fragen sich: Warum konnte der Jugendliche nicht ohne eine Maschinenpistole gestoppt werden?

Die Staatsanwaltschaft und das Polizeipräsidium aus dem benachbarten Recklinghausen ermitteln ob die Schüsse gerechtfertigte Notwehr waren. Der Polizist, der sie abgegeben hat, wird als Beschuldigter geführt. So ist es üblich, wenn Polizisten im Einsatz einen Menschen töten. Das Geschehen an diesem Montagnachmittag stellen Polizei und Staatsanwaltschaft bislang so dar: Mitarbeiter der Unterkunft für minderjährige Geflüchtete, in der D. untergebracht ist, wählen den Notruf.

Der 16-Jährige laufe mit einem Messer auf dem Gelände der Einrichtung in der Dortmunder Nordstadt herum, wolle sich offenbar etwas antun. Die Polizei rückt mit 11 Beamten aus. Sie versuchen zuerst, den Jungen zu beruhigen, wollen ihn dann mit Pfefferspray und einem Taser überwältigen – ohne Erfolg. Als er mit dem Messer auf einen Polizisten zustürmt schießt ein weiterer Beamter mit seiner Maschinenpistole auf Mouhamed Lamine D. Er schießt sechs Mal, eine Kugel verfehlt ihr Ziel.

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Die Bodycams, die die eingesetzten Polizisten an ihren Uniformen tragen, könnten bei den Ermittlungen helfen und die vielen Fragen der Öffentlichkeit beantworten. Doch keiner der Beamten hatte seine Kamera eingeschaltet. Ein Vorgang, der weitere Fragen aufwirft. Und kein Einzelfall.

Mannheim, drei Monate zuvor. Am 2. Mai verständigt ein Arzt des Zentralinstituts für seelische Gesundheit die Polizei – ein psychisch kranker Patient brauche Hilfe. Zwei Polizisten machen sich gemeinsam mit dem Arzt in der Mannheimer Innenstadt auf die Suche nach dem 47-Jährigen. Als sie ihn treffen, leistet der Mann laut Polizeiangaben Widerstand.

Die Polizisten besprühen ihn mit Pfefferspray, verfolgen ihn zu Fuß. Schließlich ringen sie ihn nieder, fixieren ihn am Boden. Handyvideos von Passanten zeigen, wie einer der Beamten dem 47-Jährigen dabei mehrfach mit der Faust gegen den Kopf schlägt. Kurz später kollabiert er und stirbt anschließend im Krankenhaus.

Die Videoclips, die sich schnell im Internet verbreiten, zeigen nur Ausschnitte des Geschehens. Doch auch im Mannheimer Fall fehlen Bodycam-Aufnahmen, die für ein vollständiges Bild sorgen könnten. Die beiden Polizisten tragen zwar Kameras am Körper, schalten sie aber nicht an. Der Präsident des Baden-Württembergischen Landeskriminalamts erklärt wenige Tage später, die Kameras hätten eingeschaltet werden müssen.

Gegen die beiden Beamten wird ermittelt. Auch mehr als drei Monate nach dem Einsatz bleiben sie vom Dienst suspendiert, wie die Polizei auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) mitteilt.

In den USA Standard

Immer mehr Polizisten in Deutschland sind mit Körperkameras ausgestattet. Doch wie sinnvoll sind die Kameras, wenn sie in wichtigen Situationen regelmäßig nicht filmen?

In den USA sind Bodycams vielerorts schon länger Standard. Sie sollen zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Polizeieinsätzen dienen und Bürgerinnen und Bürger vor Übergriffen durch Beamte schützen. In Deutschland ist das anders. Die Körperkameras sollen hier vor allem die Polizisten vor Angriffen schützen. „Es geht nicht nur darum, Videoaufnahmen gerichtsverwertbar zu nutzen“, sagt Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP).

„Das Einschalten der Kamera soll auch dazu führen, dass sich aggressive Personen wieder beruhigen, weil sie wissen, dass sie gefilmt werden.“ Seine Gewerkschaft habe die Einführung der Körperkameras schon vor Jahren begrüßt. Die meisten Polizisten sähen die kleinen Geräte positiv.

Auch Rafael Behr hält den Einsatz von Bodycams grundsätzlich für positiv. Behr ist Kriminologe und Professor für Polizeiwissenschaft an der Akademie der Polizei in Hamburg.

Bodycams keine Hilfe derzeit

Der ehemalige Polizist gehört zu den profiliertesten Polizeikritikern in Deutschland. „Von den Instrumenten, die die Polizei in der letzten Zeit angeschafft hat, um sich aus- und aufzurüsten, halte ich die Bodycam für das Mittel, das am wenigsten Schmerzen verursacht.“

So wie sie zurzeit in Deutschland eingesetzt würden, seien die Kameras aber keine Hilfe. „Sie sollen ausschließlich dazu dienen, das Verhalten von Bürgern zu dokumentieren, die von polizeilichen Maßnahmen betroffen sind, nicht das Verhalten der Polizisten“, kritisiert Behr. Die Möglichkeiten der Bodycam zur umfassenden Beweissicherung seien sehr eingeschränkt, erklärt er – „und zwar aufgrund des Einwirkens der Polizeigewerkschaften und der Personalräte.“ Dadurch würden Bodycams zu einem Herrschaftsinstrument und nicht zu einem neutralen Beweismittel.

Wie und wann die Körperkameras eingesetzt werden dürfen und sollen, ist je nach Bundesland und bei der Bundespolizei unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen regelt das der Paragraf 15c des Polizeigesetzes. Demnach dürfen „körpernah getragene Aufnahmegeräte“ genutzt werden, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dies zum Schutz von Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten oder Dritten gegen eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist“. Im Einzelfall entscheiden die Beamten in der Regel selbst, ob sie die Kamera einschalten, oder nicht.

Warum blieb die Bodycam aus?

Warum die Bodycams in Dortmund nicht eingeschaltet waren, begründete das NRW-Innenministerium auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeigers“ damit, dass „höchstpersönliche Lebenssachverhalte“ nicht gefilmt werden dürften – dazu gehörten auch Suizide. Weil Mouhamed Lamine D. angekündigt habe, sich das Leben nehmen zu wollen, habe er also nicht gefilmt werden dürfen.

Einem weiteren Bericht des „Kölner Stadt-Anzeigers“ zufolge begründete das Dortmunder Polizeipräsidium das Nicht-Einschalten der Kameras hingegen mit der „dynamischen Lage“: Im Zuge der Stresssituation habe man vergessen, die Bodycams einzuschalten.

Rafael Behr fordert neue Regeln für den Einsatz von Bodycams in Bund und Ländern – damit Einsätze wie in Dortmund und Mannheim künftig dokumentiert werden. „Die Regel könnte lauten: Die Kamera wird bei allen Einsatzanlässen zumindest im Pre-Recording-Modus eingeschaltet, in denen undurchsichtige Situationen erwartet werden, deren Ausgang nicht vorhergesehen werden kann“, sagt der Polizeiwissenschaftler.

Im Pre-Recording-Modus nimmt die Kamera Videos in einem internen Arbeitsspeicher auf, die alle 30-60 Sekunden automatisch überschrieben werden. Erst wenn der Polizist die eigentliche Aufnahme startet, werden die Bilder auf der Speicherkarte der Kamera gesichert – inklusive der vorangegangenen 30-60 Sekunden aus dem Puffer.

„Es geht bislang explizit nicht um die Transparenz und um die Rechtmäßigkeit polizeilicher Handlungen“, kritisiert Behr. Es gehe nur um die Beweissicherung und die präventive Wirkung auf das polizeiliche Gegenüber. „Das ist eine einseitige Nutzung, die das Vertrauen in die Polizei weiter untergräbt. Man hat das Gefühl, die Beamten entscheiden willkürlich, was sie filmen und was nicht“, sagt Behr.

Rechtliche Schwierigkeiten

Polizeigewerkschafter Malchow widerspricht den Forderungen des Kriminologen. „Würde man das polizeiliche Verhalten aufnehmen wollen, müsste diese Kamera die ganze Zeit laufen“, sagt er. „Dann würden Sie automatisch dauerhaft in Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern eingreifen - obwohl es vielleicht gar nicht notwendig ist.“ Denn durch Filmaufnahmen der Polizei würde stets das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingeschränkt. Polizeiliche Maßnahmen müssten immer danach ausgerichtet werden, dass das mildeste Mittel eingesetzt wird. Bei einem dauerhaften Einsatz von Bodycams stelle sich deshalb die Frage der Verhältnismäßigkeit. „Das halte ich rechtlich für schwierig“, sagt Malchow.

Wenn die Kamera laufe, könne das polizeiliche Verhalten ja mit bewertet werden. „Aber die Ursache für das Laufen muss in Verhaltensweisen eines Bürgers liegen, die es uns erlauben, die Kamera anzumachen.“

Rafael Behr hält das für eine „durchsichtige Argumentation“. „Die Polizei verwendet diese Argumentation besonders gerne und besonders intensiv dann, wenn sie selbst betroffen ist“, sagt er. Wenn es um Telefonüberwachung oder Vorratsdatenspeicherung gehe, würde dagegen über den Datenschutz geschimpft.

„Es braucht einen Kulturwandel bei der Polizei“, sagt Behr und fügt an: „Das Bollwerk, das im Moment durch die Polizeigewerkschaften aufgebaut ist, dass die Kamera nur die „Gegner„ aufzeichnet, muss beseitigt werden.“

In den USA sei der Hintergrund der Bodycams ein ganz anderer. Dort heiße es: „Wir haben nichts zu verbergen und wir lassen die Bodycam mitlaufen, um zu zeigen, dass alles was wir tun, in Ordnung ist.“ Tatsächlich gehören in den USA Bürgerrechtsorganisationen wie die American Civil Liberties Union (ACLU) zu den treibenden Kräften hinter der Einführung von Bodycams – und Gesetzen, die die Kameras zu einem effektiven Mittel der Polizeiaufsicht machen. In den USA gelten jedoch auch deutlich laxere Datenschutzbestimmungen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat dort einen niedrigeren Stellenwert als in Deutschland.

Umfangreiche Funktionen

Wie die Kameras in Deutschland künftig eingesetzt werden, ist eine Frage politischer Entscheidungen und Güterabwägungen: Wie viele Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sind wir bereit, für eine bessere Kontrolle der Polizei in Kauf zu nehmen?

An den technischen Möglichkeiten scheitert diese Entscheidung jedenfalls nicht. Bodycams, wie sie etwa in NRW im Einsatz sind, verfügen schon heute über umfangreiche Funktionen, die bislang nicht genutzt werden. Die Kameras des US-Herstellers Axon können beispielsweise automatisch eine Aufnahme starten, wenn ein Polizist seinen Taser zieht, oder wenn ein Schuss abgegeben wird. In Dortmund hätte diese Funktion möglicherweise für einige Klarheit gesorgt.

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