Bayer und das Finale von 2002Reiner Calmunds Alpträume wegen „Drecksack Zidane“

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Reiner Calmund und die Helden von 2002

Leverkusen – Das Erholungshaus im Zentrum von Leverkusen entstand, so ist es überliefert, 1906 als Idee bei der Silberhochzeit des Kommerzienrates Friedrich Bayer. Am 13. September 1908 wurde es eingeweiht als Kulturzentrum für Betriebsbeschäftigte, die das 18. Lebensjahr erreicht hatten und bereit waren, fünf Pfennig Monatsbeitrag zu bezahlen, mit einem Lichtbildvortrag über „Leben und Sterben unseres Grafen Zeppelin“. Ein Glas Bier von der Wicküler Küppersbrauerei kostete zehn Pfennig. 114 Jahre später fanden sich im Kulturzentrum des Konzerns gut 500 vorwiegend in Rot und Schwarz gekleidete Menschen ein, um einem Ereignis zu gedenken, das ziemlich genau 20 Jahre alt ist – die unglaubliche Reise der Werkself ins Champions-League-Finale 2002.

Bayer 04 hat dazu einen Film produziert und einige der Helden von einst eingeladen. Und, was die Gemeinde besonders freute, Reiner Calmund ein Mikrofon in die Hand gedrückt. Das war im Hause Bayer seit dem nicht ganz freiwilligen Abschied des einstigen Erfolgsmanagers 2004 nicht mehr vorgekommen.

Doch die Mannschaft des Jahres 2002 war sein Baby. Und das knappe Verpassen der Titel in der Bundesliga, im DFB-Pokal und schließlich der Champions League seine persönliche Tragik. Die Reise nach Glasgow darf allerdings mit der Entfernung von zwei Jahrzehnten als unglaubliche Geschichte gedeutet werden, die selbst heute von den Beteiligten kaum zu fassen ist.

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Vier Helden von damals sind gekommen, um davon berichten. Kapitän Jens Nowotny, heute Unternehmer und Assistenztrainer der U-18-Nationalmannschaft. Carsten Ramelow, einst Abräumer im Mittelfeld und heute Vizepräsident der Vereinigung der Vertragsfußballer. Thomas Brdaric, unberechenbarer Flügelstürmer und inzwischen Trainer des FC Chennai in der indischen Super League. Und Olivier Neuville, der in 165 Spielen für Bayer 45 Tore erzielte, unter anderem fünf wichtige, die sein damaliges Team in dieses Champions-League-Finale gegen Real Madrid brachten. Seit Jahren arbeitet der gebürtige Schweizer in Trainer-Teams von Borussia Mönchengladbach. Und das Trainer-Duo Klaus Toppmöller/Peter Hermann fehlte natürlich auch nicht.

Die Klasse des damaligen Teams wird verdeutlicht von der Tatsache, dass an diesem Abend in legerer Kleidung 171 Länderspiele für Deutschland auf dem Podium standen, obwohl die wahren Superstars dieses Teams gar nicht da waren: Michael Ballack, Zé Roberto, Lucio und auch Ulf Kirsten, der ein Jahr nach dem Drama von Glasgow seine Karriere beendete. Sie alle aber tauchten in diesem Film auf, für den Bayer 04 auch große Gegner von damals interviewt hatte. Vor allem den Torhüter Iker Casillas, der das Endspiel 68 Minuten lang von der Bank aus betrachtete, bis er nach der Verletzung von Cesar Sanchez eingewechselt wurde und eine Weltkarriere startete. Reiner Calmund berichtete in seinem rheinischen Singsang, wie man sich beim Stand von 2:1 für Madrid „jefreut“ habe, dass jetzt der junge, unerfahrene Torhüter in ein Spiel kam, das Bayer längst dominierte. Und wie ihm ein Spanier zuraunte: „Freu dich nicht, der ist besser“.

Wie wir wissen, entsprach das der Wahrheit. „Unglaublich, was der Drecksack alles gehalten hat, links mit dem Fuß, rechts mit dem Fuß, der war überall“, keucht Calmund ins Mikrofon und wünscht sich auch mit 20 Jahren Abstand noch, sein Torwart Jörg Butt wäre an dem Tag ähnlich gut gewesen. „Der Drecksack Zidane haut uns dieses Traumtor rein“, kommentiert Calmund das 2:1 und bekennt, auch noch Jahrzehnte später nachts aus dem Schlaf hochzufahren mit dem Satz: „Das sind 20 Meter, du musst doch den Arm hochnehmen Jörg, den musst du doch halten.“ Die Fans im Erholungsheim leiden mit, sie stöhnen auf. Den ganzen Film lang haben sie gejubelt.

Auch ohne Happyend überwiegt am Ende der Stolz

Über die Sensationssiege gegen Barcelona, Arsenal, Liverpool und vor allem über das Weiterkommen im Halbfinal-Rückspiel gegen Manchester United. Aber so sehr sich die Macher Mühe gegeben haben mit der magischen Reise von 2002, die seit Freitag auf Youtube zu sehen ist: Ein Happy End haben sie nicht hingekriegt. Bayer 04 hat das Finale 1:2 verloren.

Dennoch überwiegt am Ende der Stolz darauf, mit nur 14 eingesetzten Spielern durch 17 Partien dieser Champions-League-Saison marschiert zu sein, in der zweiten Gruppenphase La Coruña, Arsenal und Juventus hinter sich gelassen und in der Finalrunde Liverpool und Manchester mit fantastischen Leistungen aus dem Turnier geworfen zu haben.

Reiner Calmund, der nur noch halb so viel wiegt wie damals, beschloss den Abend mit den Worten: „Michael Ballack wurde dann Fußballer des Jahres in Deutschland. Und ich wurde dann zum besten Manager in Europa gewählt, auch deshalb, weil unsere Fans zu 99 Prozent – es gibt immer zwei Idioten oder drei, die kannst du nicht ausschalten – aber zu 99 Prozent in Glasgow so unglaublich fair und anständig waren.“

Da war eine Freude und ein Jubel im Erholungshaus in Leverkusen, davon hätte unser Graf Zeppelin vor mehr als 100 Jahren nur träumen können.

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