Prekäre BetreuungslageKita-Krise wird für die Unternehmen im Rheinland zum Standort-Nachteil

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Portrait of young mother works freelance on laptop computer, communicates with someone via smart phone, looks after her little son who doesn`t go to kindergarten. Working mum with male child.

Noch immer stecken vor allem Frauen bei der ihrer Karriere zugunsten der Betreuung von Kindern zurück. (Symbolbild)

Die Kita-Krise belastet nicht nur Eltern und die Einrichtungen schwer. Auch für Arbeitgeber sind die häufigen Ausfälle ein Problem. 

Susanne von Hehl gehört zu den Gründerinnen des „Forschungszentrums Familienpolitik“ (FFP) an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (EvH) in Bochum. Die Professorin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden kann. Die Analysen des FFP lassen Politik und Arbeitgeber aufhorchen.

In den Köpfen hält sich ein Klischee

„Es ist ein Irrglaube, dass eine familienfreundliche Kultur in den Unternehmen nur den Beschäftigten nützt“, sagt von Hehl dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Studien zufolge steigt die Produktivität von Mitarbeitenden um 23 Prozent, wenn die Jobs familienfreundlich sind“, so die Professorin.

Von Hehl stellte ihre Erkenntnisse jetzt als Expertin bei einer Veranstaltung der Landtagsgrünen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur Diskussion. „Die Organisation von Familienleben und Berufstätigkeit wird noch immer als Aufgabe der Mütter und nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen", sagt die Kölner Abgeordnete Eileen Woestmann. Vereinbarkeit müsse aber von allen Seiten geschaffen werden - und sei nicht nur Frauensache.

Bislang hält sich in den Köpfen vieler Unternehmer das Klischee, dass Familienfreundlichkeit ein teurer Luxus ist, für den die Mitarbeitenden dankbar sein sollten. Ein antiquiertes Bild, mit dem sich die Arbeitgeber selbst im Weg stünden. In vielen Bereichen wiesen familienfreundliche Firmen „deutlich bessere wirtschaftliche Werte auf als Konkurrenten mit althergebrachten Strukturen“, sagt von Hehl. „Die Krankheitsquote sinkt um 49 Prozent. Gleichzeitig steigt der Anteil der qualifizierten Bewerber. Eine familienfreundliche Firmenkultur ist eine Win-win-Situation für Arbeitgeber und Beschäftigte gleichermaßen.“

Eltern in Führungspositionen oft benachteiligt

Vielfach verbauen Unternehmen Müttern und Vätern durch althergebrachte Strukturen die Chance, Job und Familie unter einen Hut zu bekommen. Die Option, in Teilzeit zu arbeiten, wird entweder nicht angeboten oder bringt signifikante Nachteile mit sich. Das betrifft vor allem Eltern in Führungspositionen. Von ihnen wird erwartet, dass sie jederzeit bereit sind, sich in Besprechungen einzuwählen – auch wenn die Treffen außerhalb ihrer Arbeitszeit stattfinden.

Um Konflikten aus dem Weg zu gehen, ziehen es vor allem viele Mütter vor, nur wenige Stunden in der Woche zu arbeiten. Einer Studie des Beratungsunternehmens Prognos zufolge arbeiten von 5,3 Millionen erwerbstätigen Müttern etwa 2,5 Millionen weniger als 28 Stunden in der Woche. Würden diese durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf ihre Arbeitszeit um nur eine Stunde pro Woche erhöhen, würde dies folgerichtig einem Plus von 2,5 Millionen Wochenstunden an zusätzlicher Arbeitsleistung entsprechen.

„Unsere Gesellschaft ist angesichts des Fachkräftemangels mehr denn je auf das große Potenzial der vielen qualifizierten und leistungsstarken Frauen angewiesen. Das ist eine große Chance für Frauenkarrieren und gerade auch für Mütterkarrieren“, sagt NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne).

Kita-Krise stellt Eltern vor unlösbare Probleme

Tatsächlich hängt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf aber nicht nur vom Arbeitgeber, sondern auch von einer verlässlichen Betreuung ab. Eltern junger Kinder werden durch die aktuelle Kita-Krise oder durch Ausfälle im offenen Ganztag regelmäßig vor unlösbare Probleme gestellt. Wer nicht über eine Notfallbetreuung – zum Beispiel durch Großeltern – verfügt, muss sich regelmäßig bei den mehr oder weniger verständnisvollen Kolleginnen und Kollegen abmelden.

Im November und Dezember 2023 musste jede fünfte Kita in NRW die Öffnungszeiten einschränken, teilweise oder ganz schließen – ein trauriger Rekordwert. In NRW fehlen rund 3300 zusätzliche Fachkräfte. Bei der U3-Betreuung gebe es einen „Flickenteppich“, den sich das Land nicht mehr leisten könne, kritisiert Dennis Maelzer, familienpolitischer Sprecher der SPD im Landtag.

Weil die staatlich organisierten Strukturen unterfinanziert sind und versagen, versuchen Unternehmen, die es sich leisten können, Fachkräfte durch eigene Kinderbetreuungsangebote anzulocken. Thyssenkrupp Steel bietet am Verwaltungshauptsitz in Duisburg betriebseigene und betriebsnahe Kita-Plätze an. Zudem unterstützt der Konzern Eltern kurzfristig bei der Suche nach Tagesbetreuung. „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine große, gemeinschaftliche Aufgabe und weder eine rein private noch rein betriebliche Angelegenheit“, bekräftigt das Unternehmen.

Bewerber springen ab

Wie relevant das Thema Familienfreundlichkeit ist, hat auch die Bergische Industrie- und Handelskammer erkannt. Dort wurden die Unternehmen jetzt zu einem Kinderbetreuungsgipfel eingeladen. „Es ist für mich unbegreiflich, dass der Staat erst eine Betreuungsgarantie gibt und sich dann erst damit befasst, wie das funktionieren kann“, sagt IHK-Präsident Henner Pasch.

Der Geschäftsführer des Solinger Personaldienstleister Fourtexx versucht gerade selbst, eine Möglichkeit zu schaffen, in seiner Firma die Betreuung der Kinder von Mitarbeitenden anzubieten. Potenzielle Bewerber seien bereits abgesprungen, weil die Kita-Betreuung in Solingen nicht sicher sei, hieß es. Eine prekäre Kita-Versorgung wird zunehmend zum Standort-Nachteil.

Die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) versuchen durch Homeoffice, flexible Arbeitszeiten, Arbeitszeitkonten und Teilzeitmodelle bei den Mitarbeitern zu punkten. „Dies alles bietet den Eltern Entlastung, Flexibilität und Handlungsspielräume, um unvorhergesehene Engpässe in der Kinderbetreuung kompensieren zu können“, heißt es. Auch Fairtrade Deutschland in Köln-Braunsfeld reagiert auf die Kita-Krise: „Der aktuellen Betreuungsnotlage begegnen wir mit flexiblen Anfangszeiten über Überstundenabbau bis hin zum verstärkten Homeoffice“, sagt Personalvorständin Katja Carson.

Wenn Homeoffice keine Option ist

Das Arbeiten zu Hause macht vieles leichter. Bei Polizei, Feuerwehr oder in den Krankenhäusern ist aber in der Regel kein Homeoffice möglich. Hier könne zum Beispiel eine Mitsprache bei der Dienstplangestaltung Entlastung schaffen, heißt es beim „Forschungszentrum Familienpolitik“. Wer in Präsenz arbeiten muss, sei in besonderer Weise auf eine verlässliche Betreuung angewiesen.

„Das Land muss durch Investitionen in den Personalapparat sicherstellen, dass die nötigen Reservekapazitäten vorhanden sind, die den Ausfall von Beschäftigen ausgleichen können“, so Professorin von Hehl. Zudem müssten die Betreuungszeiten in den Kitas flexibler werden: „Für manche Beschäftigte würde es beispielsweise besser passen, die Kinder später zu bringen und zu holen als von sieben bis 15 Uhr.“

Wenn alle Stricken reißen, müssen Eltern improvisieren. Anna Weber, Geschäftsführerin des Babyausstatters Babyone, hat bei Linkedin ein Foto veröffentlicht, das sie am Konferenztisch mit einer Teamleiterin zeigt, auf deren Schoß ein kleines Mädchen sitzt. Die Führungskraft musste ihr Kind kurzerhand mit in die Besprechung bringen, weil die Betreuung ausgefallen war. Die Kollegen hatten nichts dagegen, manche boten sogar an, während der Präsentation der Teamleiterin auf die Tochter aufzupassen.

Kinder am Arbeitsplatz oft unerwünscht

Während immer mehr Firmen ihren Angestellten gestatten, ihren Hund mit ins Büro zu nehmen, sind Kinder am Arbeitsplatz oft unerwünscht und werden als störend empfunden. Den meisten Eltern ist eine solche Situation selbst unangenehm und nur die absolute Notlösung. Für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei entscheidend, dass sich die Kultur in den Unternehmen verändere, sagt Susanne von Hehl. „Arbeitgeber und Beschäftigte müssen in einen Dialog treten, um über die Bedarfe zu sprechen. So lassen sich zum Teil überraschende Verbesserungen erzielen“, sagt die Professorin.

Nicht nur Mütter, auch immer mehr Väter würden familienfreundliche Arbeitszeiten fordern, sagt von Hehl: „Arbeitgeber, die darauf Antworten finden, haben gute Chancen, Fachkräfte langfristig an sich zu binden.“ Dies sei umso wichtiger, da jetzt mit der Generation Z Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängen, für die eine ausgewogene Work-Life-Balance besonders wichtig sei.

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