Forscher über Klima-Proteste„Störungen des Verkehrs muss eine Gesellschaft aushalten“

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Polizisten lösen die festgeklebte Hand eines Aktivisten der Umweltgruppe «Letzte Generation» von der Fahrbahn.

Klebe-Aktionen der „Letzten Generation“, wie hier am 3. Februar 2023 in Köln

Die Debatte, ob sich die Klimabewegung radikalisiert, hält weiter an. Der Protestforscher Daniel Mullis erklärt im Interview, ob die Befürchtung berechtigt ist.

Herr Mullis, die aktuelle Debatte über die Klimabewegung lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Die eine Seite warnt, die Klimaaktivisten radikalisierten sich. Die Aktivisten selber entgegnen: Es ist die Klimakrise, die sich radikalisiert und wir tun zu wenig dagegen. Welche Seite hat recht?

Daniel Mullis: Das Pariser Klimaabkommen ist beschlossen und Deutschland tut eindeutig zu wenig, um die eigenen Verpflichtungen einzuhalten. Die Klimabewegung hat insofern mit ihrer Kritik recht. Zu differenzieren ist hier natürlich die Frage, ob sich der Protest radikalisiert.

Ist es denn so? Radikalisieren sich die Klimaproteste?

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Ich sehe keine grundsätzliche Radikalisierung, weder in den Forderungen noch in der Praxis. Klar, die Klebe-Aktionen mögen ärgerlich sein, die Aktionen des zivilen Ungehorsams sowie Besetzungen übertreten Gesetze. Aber im Grundsatz sind das Formen, die eine Demokratie aushalten muss und kann. Auch, was die Ziele der Proteste betrifft. Es geht um die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels. Das ist etwas, was sich Deutschland staatlicherseits selber zur Aufgabe gemacht hat. Es gibt in der Bewegung kaum Töne, die sich grundsätzlich gegen den Staat oder die freiheitliche, demokratische Grundordnung wenden. Im Gegenteil, sie richten sich an die Politik und fordern diese zum Handeln auf.

Dr. Daniel Mullis ist Geograph. Er forscht am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Protest.

Dr. Daniel Mullis ist Geograph. Er forscht am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Protest.

Zugespitzt hat sich in den letzten Monaten definitiv das Vokabular einiger Politiker in Bezug auf die Aktivisten der Protestbewegung „Letzte Generation“. Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt bezeichnete sie etwa als „Klima-RAF“. Was steckt hinter diesem verbalen Aufrüsten einiger Politiker?

Aus meiner Sicht haben diese Äußerungen erstmal nicht viel mit der Art der Proteste zu tun. In diesem verbalen Aufrüsten manifestiert sich eher der Streit darüber, wie mit der Klimakrise umzugehen ist. Der Konflikt scheint sich auf die Frage zuzuspitzen: Wird die Krise in einer Weise bearbeitet, dass jene, die heute schon privilegiert sind, ihre Privilegien behalten und damit die weniger Wohlhabenden, insbesondere im Globalen Süden, aber auch hier, die Zeche zahlen? Oder wird es eine globale und soziale Antwort auf diese Krise geben? Die Klimabewegung steht mit ihrer Parole der Klimagerechtigkeit für letzteres. 

Wie problematisch ist es, dass vor allem über die Form der Proteste der „Letzten Generation“ oder auch der Proteste um Lützerath diskutiert wird und weniger über die eigentlichen Forderungen. Wird das Wofür so gerade durch das Wie überlagert?

Diskussionen um Protestformen sind nicht neu. Sie entbrennen immer wieder, wenn Bewegungen erstarken und außerhalb eingespielter politischer Pfade hör- und sichtbar werden. Wir kennen sie von Anti-AKW-Protesten, aber auch der globalisierungskritischen Bewegung. Auch innerhalb der Bewegungen wird über das Wie intensiv diskutiert. In der aktuellen Situation, gerade auch im historischen Vergleich, erachte ich die Rhetorik allerdings als etwas überdreht. Mir scheint, hier geht es doch auch um Versuche, den Klimaprotest zu delegitimieren. 

Die Straßenblockaden der Gruppe beeinträchtigen zunächst ja aber auch Bürger, die nur bedingt Einfluss auf Klimaschutzmaßnahmen haben. Ist das Ihrer Ansicht nach legitim?

Ob das gut oder richtig ist, darüber kann man natürlich streiten, als legitim und im Rahmen des Demokratischen zu rechtfertigen, halte ich sie jedoch. Klar, die Blockaden sind ärgerlich für die, die im Verkehr stecken bleiben. Aber letztlich spielt der Autoverkehr in den Forderungen der Aktivisten eine zentrale Rolle. Ich bin daher der Meinung: Solche Störungen des täglichen Verkehrs muss eine Gesellschaft aushalten.

Die Protestformen der Klimabewegung werden ja auch deshalb immer extremer, weil die Frustration angesichts weitgehender politischer Untätigkeit, oder im Falle von Lützerath, Enttäuschung über einen für schlecht befundenen Deal, steigt. Wie gefährlich ist diese Frustration?

Die Frustration gibt es, aber auch ein beständiges „Wir machen weiter“. Grundsätzlich würde ich, wie gesagt, in Zweifel ziehen, dass die Proteste extremer werden. Wir sehen eine Tendenz zum zivilen Ungehorsam, ja, aber die Mittel bleiben im Demokratischen. Wie gesagt, perspektivisch sind problematische Radikalisierungstendenzen in die Gewalt möglich. Ich sehe sie jetzt nicht, ausschließen kann man es nicht. Die größere Gefahr für die Demokratie ist aber ein anderer Effekt dieser Frustration, nämlich Politikverdrossenheit. Dass sich die Menschen irgendwann doch von demokratischen Prozessen abwenden, sich ins Private zurückziehen, Engagement als sinnlos erachten. Für die Demokratie ist dieser Rückzug von Engagierten fatal, wenn auch als Prozess weniger spektakulär als eine Radikalisierung.

Angesichts der sich zuspitzenden Klimakrise halten einige in der Klimabewegung auch radikalere Aktionen für legitim, andere Teile sprechen sich klar dagegen aus und betonen, dass man die Sympathie in der Gesellschaft nicht verlieren dürfe. Spaltet sich die Klimabewegung gerade in zwei Lager?

Auch diese Diskussion begleitet Massenbewegungen schon lange und ist nicht neu. Ich glaube nicht, dass das ein größeres Problem der Proteste ist. Letztlich ist es der Versuch, die Bewegung von außen zu beeinflussen und Bündnisse aufzulösen. Aus meiner Beobachtung hat das aber – zumindest langfristig – oft nicht wirklich funktioniert. Erst recht nicht in den letzten Jahren. 

Wie verhält es sich mit den Grenzen von Protest: Wie weit darf er gehen?

Historisch gesehen sind solche Grenzen beweglich. Sie basieren immer auch auf gesellschaftlichen Normen: was zu einem gewissen Zeitpunkt als legitim gilt und was nicht. Heutzutage gibt es einen großen Konsens, dass die Grenze dann überschritten wird, wenn Protest sich gewalttätig gegen Menschen richtet.

Lässt sich aus dem Beispiel früherer Protestbewegungen ableiten, was Protest leisten muss, um wirklich Veränderung zu bewirken?

Das ist schwer zu sagen, weil es immer auch auf den Rahmen ankommt. Gewerkschaften etwa sind immer wieder unmittelbar mit Protest erfolgreich, selbst wenn er klein bleibt. Andere Proteste, wie die Krisenproteste in Europa 2011 gegen die Sparpolitiken waren massenhaft, haben aber kaum etwas erreicht. Für die Klimabewegung kommt aber ein wichtiges Element hinzu. Hier geht es nicht nur darum, Politik dazu zu bringen, strengere Klimaschutzmaßnahmen zu erlassen. Sondern letztlich geht es um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Um die Frage, wie wir uns alle dieser Krise stellen, welche Schritte wir bereit sind, zu ergreifen, um sie zu bewältigen. Wenn man sich die Klima-Prognosen ansieht, wird deutlich, dass es nicht reichen wird, einfach ein paar Gesetze zu ändern. Der Klimawandel wird – über kurz oder lang, ob wir wollen oder nicht – unser aller Leben betreffen. Das heißt, das Ringen der Klimabewegung ist auch ein unmittelbar gesellschaftliches Ringen und nicht nur ein politisches.

Mit welcher Größenordnung der nötigen Transformation, die die Klimabewegung erwirken will, haben wir es hier zu tun? Gab es schon mal etwas Vergleichbares?

Mit Sicherheit. Ich denke der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat recht, wir befinden uns mitten in einem Epochenbruch. Der Soziologe Andreas Reckwitz fragt sich etwa, ob wir gar dabei sind, die Moderne hinter uns zu lassen. Womöglich begreifen wir die Tragweite der Transformation noch gar nicht ganz. Aber die Gesellschaft wird sich stark verändern. Vergleichbar sind sie vielleicht schon mit der Tiefe der Veränderung, wie sie die Gesellschaft mit dem Übergang vom Feudalismus zur Demokratie oder der Industrialisierung durchlaufen hat.

Für westeuropäische Gesellschaften kommt meiner Ansicht nach aber noch etwas hinzu. Und zwar, dass der Wandel diesmal nicht aus gesellschaftlichen Innovationspotenzialen heraus entsteht, sondern quasi von außen zu einer Notwendigkeit wird. Er wirkt also erzwungen, daher auch die Verbotsdebatte. Wir verkennen dabei, dass wir, gerade als Menschen im wohlhabenden Norden, das Unheil selber angerichtet haben. Umgekehrt beobachte ich in meiner eigenen Forschung, dass sich viele Menschen der aktuellen Brüche bewusst sind und bereit wären, mehr zu tun. Gleichzeitig fehlt es an einer gesamtgesellschaftlichen Vision, wo es eigentlich hingehen soll. Es wäre wichtig, einen solchen Zukunftsentwurf politisch und sozial zu skizzieren. Hier hat die Klimabewegung ihr größtes Potenzial. Ich denke, die Politik würde gut daran tun, den Schwung von der Straße mitzunehmen und die notwendigen Prozesse einzuleiten.

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