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„50 Meter Köln“Oma Lilo und ihr Goldjunge vom La-Ola-Kiosk

Lesezeit 5 Minuten

In der Mozartstraße treffen sich die Anwohner in der Kiosk-Kneipe von Andreas Göbel (r.). Links der Stammkund Fritz (92).

Innenstadt – „Ah, der liebe Jung ist da“, sagt Lilo, die in der Küche auf ihrem Rollator kauert, als Andreas Göbel kommt. „Im Ofen ist deine Leber. Mit Püree und Blumenkohl, wie du sie magst.“ Andreas gibt Lilo einen Kuss auf den Mund und öffnet die Ofentür.

50 Meter Köln heißt unsere Serie, in der wir die Vielfalt der Stadt ergründen. Arm und Reich, Jung und Alt, Kunst, Kitsch und Kommerz: die ganze Stadt ist in der Nussschale zu finden. Nachbarn, die dem ersten Anschein nach Welten trennt, sprechen über ihren Alltag und ihren Lebensraum im Veedel. (uk)

„Wie geht’s meiner Lilo heute?“ „Na nu, nicht so“, krächzt Lilo. „Tun die Knochen weh?“ „Nu ja.“ Lilo erzählt ihre Geschichte, die von einer Frau handelt, die 40 Jahre als Serviererin gearbeitet hat und zwölf in Andreas’ Kiosk. Und die jetzt mit ihrer Rente kaum hinkommt. Lilo lebt seit 50 Jahren in der Mozartstraße 66. Seit sie vor zwei Jahren einen Schlaganfall hatte, geht’s, nu ja, nicht mehr so. Kürzlich ist sie gefallen, „mein Steißbein ist gebrochen, jetzt kann ich mich nicht mehr bewegen und bin trotzdem nur Pflegestufe 1“, sagt die 83-Jährige. Die Bürokratie treibt ihr Wuttränen in die Augen. Lilo zittert. Andreas hält ihre Hand.

Alles zum Thema Bläck Fööss

Jahrelang hat Lilo Andreas, der seit 19 Jahren den La-Ola-Kiosk in der Nummer 49 betreibt, täglich das Mittagessen gebracht. „Das kann ich nicht mehr, ich kann auch nicht mehr seine Wäsche machen, aber drei, vier Mal die Woche bekommt mein Goldjunge noch sein Essen. Und ich stricke ihm noch Socken. Immer nur drei, vier Reihen, langsam, aber es geht.“ „Du bist der Hammer, Lilo“, sagt Andreas. Lilo lacht, „Sonnabend gibt’s Bolognese“, sagt sie. „Ohne dich, den Adi und die Hedi, die mich waschen und einkaufen, könnte ich hier nicht mehr sein. Ich wäre gar nicht mehr da“, sagt Lilo. Adi ist Hausmeister, mit seiner Frau Hedi kümmert er sich um Lilo. Für Andreas Göbel ist Lilo „Mutter, Oma und Freundin. Einfach alles“.

Leben ohne doppelten Boden

Wenn du jemandem hilfst, ist auch für dich jemand da, wenn du Hilfe brauchst. Das Prinzip funktioniert in der Mozartstraße an jeder Ecke. Göbel, schwul, extrovertiert und extrem weltoffen, ist der heilige Narr des Viertels, Vortänzer eines Nachbarschaftsgedankens, den die Bläck Fööss in ihrem Lied „En unserem Veedel“ besungen haben.

Das klingt kitschig und weit entfernt von der Brüsseler Straße nebenan mit ihren Künstlern und Hipstern – einer Welt, die sich als postmodern versteht. Andreas Göbel ist das Gegenteil des ironischen Weltbürgers. „Ich möchte ewig das Kind in mir behalten“, sagt er. So lebt er auch. In seiner Welt soll keiner verloren gehen.

Die Kiosk-Kneipe, in der der 52-Jährige seit 13 Jahren Partys veranstaltet, ist voll von Weihnachtskugeln, Bildern, Zeitungsartikeln und Klimbim, ein Museum der Unschuld, glitzernd wie das Leben des Mannes, dessen Vita wie gemacht ist für eine Klischeegeschichte: geboren am 9. November 1961, im Jahr des Mauerbaus, am Tag des Mauerfalls in Sachsen, Vater aus Guinea, Kindheit mit taubstummer Mutter, Coming-out, Erniedrigungen, Festnahme beim Fluchtversuch, 17 Monate Haft, einer der letzten der politischen Häftlinge, die die BRD freikaufte. Nach einer Odyssee durch Deutschland und einem Versuch als Bürokaufmann eröffnete er mit einem Kumpel den La-Ola-Kiosk.

Über dem Tresen hängt die Hülle des Dokumentarfilms „Der schwule Neger Nobi“, den der Kölner Wilm Huygen gemacht hat – ein Kinderbuch aus der DDR verhalf Andreas zum Spitznamen Nobi; gegen den Filmtitel hatte er nichts. Göbel hat auch mal ein Rap-Lied gesungen mit dem Titel: die dreifache Randgruppe. Er nennt sich selbst zwinkernd „Neger“. Nur hat er sich in Köln nie als Randgruppe gefühlt. Und das liegt auch an der Mozartstraße.

Die Kneipe als Kunstwerk

Fritz Feige kommt in FC-Köln-Montur mit Frau Gerti an der Hand auf einen Plausch. Fritz ist 95, er wohnt mit Gerti seit 1968 in der Nummer 62. Er sagt: „Der Knalleffekt ist, dass ich die Sprache der Jungen angenommen habe und nicht die Lall- und Spucksprache der Alten.“ Er schenkt Andreas ein Buch, Glanz und Elend des 1. FC Köln. „Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu andrer Glück; denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück“, zitiert er Goethe. „Andreas macht das. Deswegen lieben wir unsere süße Mann-Frau so.“ „Na! So was sagt man nicht, Fritz!“, sagt Gerti. „Stimmt aber doch“, sagt Fritz. Andreas lacht, Fritz sagt: „Andreas ist ein Beispiel dafür, wie man aus nichts alles machen kann.“ Lilo auch. Er auch. „Wobei ich eigentlich nur Glück hatte.“ Über 100 Einsätze ist Feige im Zweiten Weltkrieg für ein Sturzkampfgeschwader geflogen, „und habe nur einen Streifschuss abbekommen“. „Das will doch keiner hören“, sagt Gerti. „Meinst du, es ist interessanter, dass ich mich am Leid anderer ergötze, weil es mir noch so gut geht?“, fragt Fritz. „Oder, dass wir Andreas unser Ledersofa geschenkt haben?“ „Na! Hör auf damit!“, ruft Gerti.

Das schwarze Sofa ist ein Prunkstück der Kneipe. In Andreas’ Wohnung hängt auch ein Bild von Holger Schnapp und Anne Wöstmann, den Künstlern aus der Nummer 47. Wenn die eine Hausparty geben, ist Andreas da. „Für mich ist die Kneipe ein Kunstwerk“, sagt Schnapp. „Andreas hat sich hier seine Traumwelt geschaffen.“ Philipp Heinicke, der im Sommer in die 47 gezogen ist und Göbel am ersten Tag kennenlernte, sagt, er kenne kaum einen, dem gute Nachbarschaft so wichtig sei wie Andreas Göbel. Philipp spielt mit seiner Band Parcours am 19. Dezember ein Kiosk-Konzert. In Mainz habe er Jahre gewohnt und die Hausbewohner nicht kennengelernt. „Hier kannte ich sofort die halbe Straße.“

Als Göbels Büdchen vor zwei Jahren vor dem Aus stand, weil er keine Lizenz zum Alkoholausschank hatte, protestierten nicht nur die Nachbarn. Im Internet machten sich Tausende für ihn stark, auch die Gaffel-Brauerei half. Das Veedel, zeigt die Mozartstraße mit ihrem heiligen Narren, dem „schwulen Neger Nobi“, hält zusammen. Ejal wat och passeet.