Kölner Autor Jürgen Wiebicke über Krisen„Angst kann ein Motor der Veränderung sein“

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Jürgen Wiebicke lehnt sich auf ein Geländer und guckt in die Kamera.

Jürgen Wiebicke widmet sich in seinem neuen Buch „Emotionale Gleichgewichtsstörung“ der Welt im Krisen-Modus.

Wie bleiben wir seelisch stabil trotz verrückter Zeiten? Ein Gespräch über Ohnmachtsgefühle, die Macht des Einzelnen, Zivilgesellschaft und Köln.

In seinem neuen Buch „Emotionale Gleichgewichtsstörung – Kleine Philosophie für verrückte Zeiten“ geht der Kölner Journalist und Autor Jürgen Wiebicke der Frage nach, wie wir angesichts der Vielzahl von Krisen den emotionalen Schwindel überwinden – auch mit Hilfe der Philosophie. Am 28. November feiert er Buchpremiere im Kölner FORUM Volkshochschule am Neumarkt. Der Eintritt ist frei. Ein Gespräch.

Wir haben lange gehofft, dass der Prozess fortschreitender Zivilisierung Gewalt immer mehr zum Verschwinden bringt. Diese Hoffnung ist zerplatzt. Was nun?

Jürgen Wiebicke: Ich weiß auch nicht, wie man einen Krieg beendet. Aber das Allererste wäre, sich selbst ehrlich zu machen: Wir haben uns geirrt in dem Überschuss an Vertrauen, dass bestimmte historische Rückschläge nicht mehr passieren werden. Wir dachten, weiter zu sein. Auf individueller Ebene wäre eine Selbstbetrachtung nötig: Wieso bin ich so verstört? Warum irritiert mich das so sehr, dass ich Sicherheit verliere?

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Wie können wir mit der Angst, die die Krisen in uns auslösen, besser umgehen?

Selbstbeobachtung hilft. Wenn ich gut über mich Bescheid weiß, kann ich mich aus der Helikopterperspektive betrachten und mir die Frage stellen: Ist diese Angst, die ich gerade habe, angemessen? Der Philosoph Montaigne, der für uns heute ein wichtiger Ratgeber sein kann, hat gesagt: Das, wovor ich mich am meisten fürchte, ist meine eigene Furcht. Denn vieles von dem, wovor ich mich fürchte, tritt überhaupt nicht ein. Man darf die Angst nicht wegschieben, aber man muss dafür sorgen, dass sie einen nicht überwältigt. Das ist aber genau das, was wir gerade erleben. Die Angst hat sich reingefressen in die Gesellschaft, ist ansteckend und entfaltet lähmende Wirkung.

Trägt die AfD kräftig dazu bei?

Ja. Die AfD betreibt Angst- und Wutpolitik. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Rolle von Emotionen wichtiger wird – auch in der Politik. Unsere Emotionen sind ein Feld, das politisch bewirtschaftet wird. Auch deswegen finde ich es wichtig, sich mit der eigenen emotionalen Verfasstheit zu beschäftigen. Denn sonst sind wir leicht manipulierbar.

Zum Beispiel von der AfD?

Natürlich! Das Projekt der AfD ist die Zersetzung. Sie will, dass wir Sicherheit verlieren, dass wir das Gefühl haben, die Gesellschaft löst sich auf. Wir müssen uns in ein Verhältnis setzen zu dem, was in der Welt gerade so furchtbar schiefläuft, ohne das Gefühl zu haben, aus dem Treibsand nicht mehr herauszukommen.

Sie sehen in der Angst auch ein Potential. Welches?

Die Angst macht mich auf etwas aufmerksam, was nicht in Ordnung ist. Angst kann uns in Bewegung setzen, Motor von Veränderung sein.

Die Philosophie hat sich schon immer die Frage gestellt, was wir tun können, um zu verhindern, dass sich die Furcht wie Mehltau auf unser Leben legt. Welche Antwort hat sie gefunden?

Warum haben Menschen Angst? Weil menschliches Leben endlich und immer gefährdet ist. Wir alle werden irgendwann sterben. Deswegen wird die Angst auch nie verschwinden. In der Corona-Zeit konnten wir viel darüber lernen, was in einer Gesellschaft passiert, die Tod und Endlichkeit lange Zeit weggeschoben und dann auf einmal nur noch das gesehen hat. Da hat uns die Angst überwältigt.

Wir hätten anders gehandelt in der Pandemie, wenn wir weniger Angst vor dem Tod gehabt hätten?

Unbedingt. Dann hätten wir mehr darüber gewusst, wie wichtig die Lebensfreude ist als der große Gegenspieler, übrigens auch dafür, dass wir gesund bleiben. Viele Menschen fragen sich: Was darf ich mir überhaupt gönnen angesichts von so vielen fürchterlichen Dingen auf der Welt? Die Antwort: viel. Es hält uns stabil, wenn wir der Lebensfreude ihren Platz geben.

Ohne vor allem an uns selbst zu denken. Wie sähe eine gute Balance aus?

Die Balance sähe für mich so aus, dass ich mir Momente von Traurigkeit und Verzweiflung zugestehe, anstatt sie verzweifelt wegdrängen zu wollen. Denn in dem Moment, weiß ich dann, dass ich die andere Seite der Waagschale stärker machen muss. Zuversicht und Hoffnung fallen nicht einfach vom Himmel, sondern verlangen eigene Aktivität. Ich muss bereit sein, das Gute, von dem es sehr viel gibt, auch zu wollen.

Wer viel hat, hat auch besonders viel zu verlieren. Haben wir in unserem Wohlstandsland sogar noch mehr Angst?

Im Moment wird sehr geklammert an dem, was wir haben. Wie oft höre ich inzwischen von denen, denen es gut geht, nach dem zweiten Glas Wein in geselliger Runde: Eigentlich kämen wir auch mit weniger aus. Ich behaupte: Alle, die ihre sieben Sinne beieinander haben, wissen, dass etwas zu Ende geht. Aber sie wissen noch nicht genau, was danach kommt

Das Ende der Illusion, auf Kosten anderer leben zu können?

Definitiv. Und das Ende von Scheinsicherheiten. Es gibt keine Sicherheit in unserem Leben. Die hat es auch vorher schon nicht gegeben. Es ist anspruchsvoll, in einer Welt klarzukommen, die sich sehr schnell verändert. Da ist die Versuchung groß, in die Vereinfachung zu gehen. Aber alle Vernünftigen wissen, dass etwas an unserer Art zu leben, hochproblematisch geworden ist. Sie wissen nur noch nicht, wie sie aus der Nummer rauskommen.

Wie wird man aus einem sich ohnmächtigen fühlenden zu einem mächtigen Subjekt?

Ganz banal: indem man anfängt, etwas zu machen. Schon Aristoteles hat über die Frage nachgedacht, wie Menschen tugendhaft werden. Seine Antwort: durch tugendhaftes Handeln. Man bringt dadurch nicht nur Gutes in die Welt, sonst zieht sich auch selbst am eigenen Schopf aus der Ohnmacht und Passivität. Im Moment gibt es ganz viele ungehobene Schätze in unserer Gesellschaft. Viele Leute würden sich gerne einbringen, sie wissen nur noch nicht so richtig, wie das geht. Aber das kann man trainieren.

Bei der Klimakrise geht es oft um die Frage: Was kann ich als Einzelner bewirken, wenn ich meine Flugreisen reduziere?

Ja, aber diese Rechnungen sind absurd, denn wir rechnen unseren Einflussbereich künstlich runter. Mit der gleichen Argumentation könnte ich durch die Straßen ziehen und den Leuten die Geldbörse klauen. Denn bei acht Milliarden Menschen auf dem Planeten ist das eine völlig unerhebliche Tat. Veränderungen gehen immer von Einzelnen aus.

Warum verringert sich Angst, wenn man ins Handeln kommt?

Weil ich in dem Moment merke: Es kommt auf mich an. Es macht einen Unterschied, ob ich da bin oder wegbleibe. Es gehört zu unserem Menschsein dazu, dass wir gerne Spuren in dieser Welt hinterlassen wollen, dass wir nicht nur zuschauen wollen, wie Dinge den Bach runtergehen.

Es ist unbezahlbar, die Erfahrung zu machen, dass man Beiträge zu einem gelingenden Ganzen leisten kann, schreiben Sie in Ihrem Buch.

Das sind keine kitschigen Zeilen, sondern ich erlebe das, wenn ich meist in lokalen Zusammenhängen schaue, was Menschen erfahren, die sich selbst einbringen und engagieren. Wir reden von Engagement immer so moralisch, als ob wir da eine Pflicht erfüllen müssten. Das Spannende am Engagement ist doch, dass es Menschen miteinander verbindet.

Vielen Verein fehlt der Nachwuchs. Machen sich immer weniger auf den Weg, diese Erfahrung zu machen?

Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir eine großartige Struktur. Wir haben viele engagierte Menschen an den unterschiedlichsten Stellen in der Zivilgesellschaft. Das darf man nicht übersehen. Und trotzdem brauchen wir Ideen, wie Menschen sich verknüpfen, wenn das nicht mehr automatisch läuft. So wie früher, wo klar war, dass man zu den Pfadfindern oder zur freiwilligen Feuerwehr geht. Wenn man das nicht mehr hat, braucht es neue, intelligente Formen, wie sehr verschiedene Menschen miteinander verbunden sein können.  Das ist eine total wichtige Zukunftsfrage für die Demokratie, auf die wir noch keine gute Antwort haben.

Das verpflichtende soziale Jahr für alle?

Meine Beobachtung ist, dass diejenigen, die das heute freiwillig tun, sehr auf dieser Freiwilligkeit beharren. Ich fände es spannender, eine Diskussion darüber anzuzetteln, was Menschen für sich selbst Gutes tun, wenn sie sich einbringen.

Unsere Demokratie mit ihrem Freiheitsversprechen ist ein Wunder, wenn man in die Welt guckt. Sind wir dabei, dieses Wunder ohne Not zu zerstören?

In manchen Momenten denke ich, wir setzen das alles grundlos aufs Spiel und werden erst merken, was wir ruiniert haben, wenn es kaputt ist. In anderen Momenten denke ich: Nein, wir dürfen nicht übertreiben mit dieser sehr pessimistischen Sicht auf die Dinge. Wir müssen auf das gucken, was wir stärken können, anstatt immer nur die Misere zu bejammern.

Der Anspruch an sich selbst muss darum zuallererst sein: Ich will nicht immer gleich beleidigt und verletzt sein
Jürgen Wiebicke

Eine Demokratie organisiert den Dissens. Diesen Dissens muss man aber zivilisiert pflegen können. Geht das verloren?

Es ist jedenfalls sehr gefährdet. Im Moment geht die Tendenz dahin, dass man sich nur noch wohlfühlt unter Gleichgesinnten. Dass hart gestritten wird, ist aber ein Grundwert von Demokratie. Der Anspruch an sich selbst muss darum zuallererst sein: Ich will nicht immer gleich beleidigt und verletzt sein. Umgekehrt kann es furchtbar frustrieren, wieviel Hass, wie viel Wut sich in Kanälen ergießt. Aber meine Erfahrung, selbst in Diskussionen mit Menschen, die der AfD nahestehen: Es lohnt sich immer in den Ring zu gehen. Es lohnt sich, die Angst vor dem Streit abzuschütteln und seinen Mut zusammenzunehmen.

Warum sind wir so schnell verletzt?

Das ist geistige Bequemlichkeit, nichts anderes. Ich muss mich nicht aussetzen. Dass Menschen ganz anders auf die gleiche Welt gucken, interessiert mich gar nicht mehr.

Wenn die aktive Zivilgesellschaft das Immunsystem der Demokratie ist: Wie steht es um das Kölner Immunsystem?

Dass die Zivilgesellschaft das Immunsystem der Demokratie ist, merkt man daran, dass Zivilgesellschaft sofort abgeschaltet wird, wenn autoritäre Kräfte die Oberhand gewinnen. Weil autoritäre Machthaber selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger nicht ertragen können. Die sind genau das, was wir brauchen. In Köln gibt es viele gute Beispiele dafür, dass genau das eingelöst wird. Ob Köln das besser macht als andere Städte, bezweifle ich aber.

Aber genau das behaupten wir gerne von uns.

Ja, natürlich. Aber diese Zeit der Selbstbesoffenheit ist hoffentlich vorbei. Wir haben nach wie vor ein schönes liberales Klima. Wir haben eine Mentalität, die begünstigt, dass Menschen sich zusammenschließen. Aber wenn man sich klarmacht, dass Engagement auch darin besteht, Hässliches in Schönes zu verwandeln: Da haben wir noch ganz viel Luft nach oben. 

Buchpremiere in Köln

Jürgen Wiebicke stellt sein beim Kölner Verlag „Kiepenheuer & Witsch“ erschienenes Buch am Dienstag, 28. November, im FORUM Volkshochschule am Neumarkt vor. Moderiert wird die Buchpremiere von Sarah Brasack, stellvertretende Chefredakteurin des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Das Gespräch wird aufgezeichnet für das Podcast-Format „Talk mit K“ des „Kölner Stadt-Anzeiger.

Dienstag, 28. November, 19 Uhr, FORUM Volkshochschule am Neumarkt, Cäcilienstraße 9-33. Eine Kooperation von „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Volkshochschule Köln. Mit Bücherverkauf und Signierstunde. Der Eintritt ist frei, eine Vorab-Anmeldung aber erforderlich: vhs-gesellschaft@stadt-koeln.de oder Tel. 0221 – 221 25990.

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