Kölner Corona-Protokolle„Weiß ich noch, wie Erdbeeren geschmeckt haben?“

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CP-Stier

Wolfgang Stier war schwer an Corona erkrankt.

Köln  – Es ist ziemlich genau ein halbes Jahr her, seit ich in Merheim ins künstliche Koma versetzt wurde, an ein Ecmo-Gerät angeschlossen werden musste und meine Familie jeden Tag befürchtete, ich würde es nicht schaffen. Es geht mir relativ gut, aber noch längst nicht so wie vor Corona. Weiß ich noch, wie Erdbeeren schmecken? Oder Kaffee? Oder ist das, was ich heute schmecke, inzwischen zwar Gewohnheit, aber längst nicht das, was ich früher geschmeckt habe?

Bei manchen Dingen bin ich mir nicht sicher: Die Schultern sind nach wie vor steif, ich kann sie nicht gut bewegen und merke das, wenn ich etwas aus einem oberen Regal holen möchte. Beim Radfahren oder Spazierengehen ist es schon schwieriger. Ja, ich komme schnell aus der Puste – aber ich war auch vorher keine Sportskanone. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Das Essen schmeckt manchmal etwas fad, süß, salzig, ja, aber die feinen Geschmacksnoten nehme ich weniger wahr.

„Meine Frau leidet unter Vergesslichkeit“

Damit lässt sich leben, ich kann es auch nicht ändern. Als Familie macht uns zu schaffen, dass meine Frau seit Januar, als ich in der Reha in Eckenhagen war, starke Kopfschmerzen hat und unter Vergesslichkeit leidet. Sie macht Teewasser an und erinnert sich eine Minute später nicht mehr daran. Sie hat ein großes Blutbild machen lassen, da wurden Covid-Antikörper festgestellt. Sie hatte also auch das Virus und leidet vermutlich an Long-Covid-Folgen, vermuten die Ärzte. Bei meiner Tochter und der Schwiegermutter, die im gleichen Haus lebt wie wir, wurden auch Antikörper festgestellt – vermutlich hatte die ganze Familie das Virus, die sich aber nur auf mich konzentriert hat, weil es mich lebensbedrohlich erwischt hatte.

Es ist seltsam, so etwas im Nachhinein zu erfahren. Zum Glück war ich der einzige, den es ganz schwer erwischt hat – aber Long Covid, das ist eben eine Sache, die eher unbekannt und seltener in den Medien ist – und die uns ebenfalls Sorge bereitet.

Meiner Frau, die im Einzelhandel arbeitete, der coronabedingt schließen musste, ist inzwischen gekündigt worden. Ich bekomme weniger Krankengeld als normales Gehalt, in der Hinsicht geht es uns wie sehr vielen: Wir müssen sparen, aber es geht irgendwie. Die Tage sind monoton und manchmal langweilig.

Die Arbeit fehlt, die Struktur auch

Der Rhythmus besteht jetzt aus Krankengymnastik, gelegentlichen Arztbesuchen, Einkäufen und Mahlzeiten – die Arbeit, die meinem Leben die Struktur gegeben hat, fehlt mir. Im Moment verlaufe ich mich manchmal in der Zeit und ertappe mich dabei, wie ich zum Fenster rausgucke, als sei ich ein alter Mann. Dann muss ich mir einen Ruck geben und etwas tun.

Eigentlich wollte ich im Juni nach Hamburger Modell wieder anfangen – die Ärzte sind inzwischen skeptisch. Vor ein paar Wochen hatte ich Wassereinlagerungen in den Füßen, und die Schultern funktionieren noch nicht gut genug. Als Schlosser muss ich aber körperlich beisammen sein, sonst hat es wenig Sinn.

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Immerhin schlafe ich inzwischen besser, die Gedanken an die Phase, als es Spitz auf Knopf stand, holen mich nicht mehr so oft ein. Sorge bereitet mir der Zustand der Gesellschaft: Es ist ja so, dass jeder stark mit sich beschäftigt ist. Man hat das Gefühl, dass nicht mehr viel geredet wird, jeder sich irgendwie zurückzieht und zu wenig Austausch da ist. Im Fernsehen sieht man immer entweder Intensivstationen oder Leute, die gegen die Maßnahmen demonstrieren, das ist mir zu schwarz und weiß. Ich finde es auch nicht unbedingt lustig, wenn sich Günther Jauch lachend aus seiner Corona-Quarantäne in eine Sendung schaltet und erzählt, dass es ihm gut gehe.

„Vielen fällt Solidarität schwer“

Die meisten stehen irgendwo dazwischen. Sie sind betroffen, aber nicht unbedingt so, dass sie nicht mehr weiterwissen. Trotzdem fällt die Solidarität vielen inzwischen schwer. Keine guten Zeiten gerade.

Das Interesse an meiner Erkrankung ist abgeebbt, was ja normal ist und völlig okay. Anfangs war da viel Neugier, da konnten dann eben einige auch zu Kollegen sagen: „Ich kenne da einen, der wäre fast an Corona gestorben.“ Inzwischen habe ich eher manchmal das Gefühl, ich müsste mich dafür rechtfertigen, dass ich noch zu Hause bin. Meine Vorgesetzten sind aber zum Glück weiterhin solidarisch und sagen: Nimm‘ dir alle Zeit. Will ich ja gar nicht, aber es wird wohl noch dauern.

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