Innenstadt – Hier darf der Weltbürger noch Dorfbewohner sein. Die Darmstädter Straße wäre deswegen ideal für eine Reality-Soap, wie man das Neudeutsch nennt. Als Hauptdarsteller träten auf: Friseur Klaus Meyer, Vorzeige-68er, der seine Mutter pflegt und in einem Zimmer hinter dem Salon lebt. Lebensmittelhändler Mehmet Algen, von dem jeder in der Straße weiß, warum er so traurig ist. Oli Petszokat (bekannt nur als Oli P.) und seine Frau Pauline, die hier ein Tierdelikatessengeschäft betreiben und bei Marion Malaka im Café „A La Tarte“ Kuchen essen oder Hochzeit feiern.
Ferner: Schuster Frank Cordes, der schon Schuhe in der Darmstädter besohlt hat, als hier noch viele Gastarbeiter wohnten, die auf dem Großmarkt malochten. Cordes weiß so viel über die Leichen in den Kellern der Reichen wie Friseur Klaus. Ein bisschen Bodenständigkeit bringt Installateur Andreas Granrath in den Mikrokosmos, der jedes Waschbecken in der Straße repariert – und der gerade dem Mann hilft, der seinen Kiosk zumachen musste, weil der Rewe inzwischen bis 0 Uhr auf hat, und nun aus dem Büdchen eine Salatbar macht.
Nicht fehlen darf der gemütliche Alexander, der die goldenen Schallplatten presst, die die Robbie Williams’, Metallicas und Mick Jaggers irgendwann in ihren Villen ausstellen, ohne je darüber nachzudenken, wo sie entstehen.
Film ab!
Im Zentrum der Dorfstraße von Welt steht Babsi Petri, seit 1983 am Tresen der Kultkneipe Backes. Klaus, Oli P., Andreas und Co. haben bei Babsi ihr Sparkästchen. Das Backes ist wie der Friseursalon und das Al la Tarte ein prima Drehort. Im Backes packt Klaus gern sein Ringo-Starr-Schlagzeug von 1967 aus, jedes Jahr kommen Gerd Köster und Frank Hocker für ein Hauskonzert vorbei, hier überlegen die Chefs der Lit.Cologne, welche Stars sie nächstes Jahr in die Stadt lotsen, hier stellt der Schriftsteller seine Sozialstudien an, hier trifft sich der legendäre Club der Verlierer.
Film ab. Klaus Meyer, dem Kabarettist Jürgen Becker gesagt hat, er komme zu ihm, weil er nicht aussehe wie ein Friseur, schneidet gerade Lit.-Cologne-Geschäftsführer Edmund Labonté die Haare. Im Schaufenster hängt ein Schild mit den Lettern „Raucher- und Schmauchersalon – hier wird geraucht, dass sich die Balken biegen“
Passt gut zu Klaus, dem Rauschebärtigen, der auf Kreta ein Rockcafé betrieb, das bekannt dafür war, dass Trunkene dort schliefen, um den nächsten Tag mit Kaffee und Ouzo einzuläuten. Der mit seiner Band Conways im Starclub auftrat und die Schlagzeugstöcke irgendwann gegen die Schere eintauschte. Der dort, wo jetzt das Restaurant „Kartöffelche“ ist, mal eine Musikkneipe hatte, die einigen Anwohnern zu laut war. Klaus hat seinen Salon tapeziert mit den Fotos von Musikern, Schauspielern und Literaten. „Hier wird natürlich nicht geraucht“, sagt Klaus, „ist nur eine kleine Provokation gegen das Rauchverbot.“ Gut, am schneidefreien Montag darf er sich ein Pfeifchen gönnen.
Man ist dann schmauchend schnell beim Gestern. „Früher parkte man hier in Zweierreihen, hier steppte der Bär. Die Mädels haben gefragt, auf welchem Stuhl der Niedecken gesessen habe.“ Und heute? Naja, Schauspieler wie Joachim Król, Musiker wie Gerd Köster kommen noch, und auch ein paar von denen, die diese so genannte Gentrifizierung hergespült hat. Ob das gut sei, für ihn? „Ne. Die alten Freunde, die noch mit Kohle geheizt haben, sind von den Yuppies abgelöst worden. Irgendwann in den 90ern stand ein Baugerüst neben dem anderen.“ Die meisten Häuser wurden an ausländische Investoren verkauft. Einige der Wohnungen werden inzwischen an Touristen vermietet.
Klaus lebt jetzt, wie erwähnt, in einer Bude hinter dem Salon. Wegen der Mutter, der 94-Jährigen. Sie zu pflegen ist nicht billig, aber normal. Klaus – nicht unwichtig für die Serie – ist Romantiker. Das größte Bild im Salon zeigt eine junge, umwerfend hübsche Frau. „Das ist Claudia“, sagt er, „die ist 1994 an Leukämie gestorben. Eine Wahnsinnsfrau. Ihre Haare habe ich hier aufbewahrt.“
Marion Malaka vom Café A la Tarte ist von Klaus anfangs ein bisschen skeptisch beäugt worden. Sie verkauft Kuchen und Tartes, lecker, sehr lecker, ja, aber sie hat eben auch diese Gentrifizierung hergebracht, oder? Marion lässt sich von Klaus die Haare schön machen, sie versorgt sein Team mit Kaffee. Sie verstehen sich (jetzt) super. Marion – sie sagt wie viele in der Darmstädter Straße gleich Du – ist Gemälderestauratorin und nur hier, weil sie einen Meditationskurs bei der Besitzerin der Hausnummer 19 gemacht hat. Die habe ihr von dem Laden erzählt. Warum nicht mal was Neues ausprobieren, hat Marion gedacht.
Sie ist in der Mainzer Straße nebenan zur Schule gegangen. „Für mich ist das eine Rückkehr.“ Als sie, heute 49, zur Schule ging, haben in der Nummer 19 nur Italiener gewohnt. In ihrem Lokal war ein Milchladen. Jetzt wohnen im Haus Filmemacher, Studenten, ein Paar, ein Geschäftsmann. Ihr Café läuft so gut, dass sie in der Woche 300 Bio-Eier braucht. Wenn Marion um 7.15 Uhr aufschließt, befüllt Herr Algen schon die Regale mit Obst und Gemüse.
Zweimal Heimat
Mehmet Algen ist vor 45 Jahren mit seinem Bruder nach Köln gekommen, um zu studieren, was dann nicht geklappt hat, zu teuer. Seitdem arbeitet er eigentlich nur. KVB, Ford, Müllabfuhr, seit 1990 der Laden hier. Um 5 Uhr ist er täglich auf dem Großmarkt. Um 19 Uhr sperrt er zu. Die Generation, „die gern gekocht hat und Zeit dazu hatte“, ist nicht mehr da, die Türken sind nicht mehr da, die Italiener sind nicht mehr da. „Ich habe mehr deutsche Produkte“, sagt er, und Bio-Eier. Sein melancholischer Blick hat auch mit seiner Heimatstadt Adana zu tun. Er würde gern zurück, kann aber nicht, „ich bin hier sehr verbunden“. Wenn er von Adana erzählt, der Luft und dem Wasser, dass er dort keine Medikamente mehr brauche, glänzen seine matten Augen. „Aber die Südstadt ist natürlich auch meine Heimat. Ich habe zwei.“ Er hätte lieber nur eine.
Sie arbeiten alle zu viel. Oli P. ist ständig im Laden und jettet zwischendurch zum Plattenauflegen auf die Partyinseln. Mehmet Algen kommt auf 70 Stunden, Marion Malaka spricht von einer 60-Stunden-Woche, sie restauriere auch noch ein bisschen Bilder, Klaus ist 70 und schneidet noch täglich Haare, Schuhmacher Frank Cordes sagt, er komme auf „60 Stunden die Woche, aber reich wird man dadurch leider nicht mehr“.
Klar, sagt Cordes, er profitiere vom Wandel, er zeigt einen hübschen Südstadt-Schuh, rot, mit bunten Lederblumen. Nur in der Darmstädter selbst wollte er irgendwann nicht mehr leben, lange hat er direkt über seinem Laden gewohnt, „aber da hat man dann nur noch an Arbeit gedacht“. Frank Cordes wohnt jetzt drei Straßen weiter.
Barbara Petry haust seit 1983 über dem Backes. Sie weiß alles über die Menschen in der Straße. Genau wie Friseur Klaus schweigt sie, wenn es ums Eingemachte geht. Ihr Leitspruch: „Eine starke Leber, ein ruhiges Gemüt, ein offenes Ohr und ein geschlossener Mund zeichnen einen guten Wirt aus.“ Bei der Fernsehserie, die nie gedreht wird, käme alles ans Licht.