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Stunksitzung bei lit.CologneWalter-Borjans liest von den Leiden eines SPD-Politikers

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Norbert Walter-Borjans vor dem Mikro auf der Bühne der lit.Cologne

Norbert Walter-Borjans las einen Text von 2006 über einen frustrierten SPDler.

Kann man auf der lit.Cologne ohne Alkohol und Kostüme eine Stunksitzung abhalten?

Geht das, aus den Texten einer Karnevalssitzung eine Lesung zu veranstalten? Nun, die lit.Cologne hat es ausprobiert, und es hat großartig geklappt. Was im Programmheft noch zurückhaltend als „Stunksitzung – eine Nachlese: Texte und Songs aus 40 Jahren“ angekündigt war, entpuppte sich schnell als „geordnete Anarchie in den heiligen Hallen des traditionellen Karnevals“, wie die moderierende Biggi Wanninger durchaus stolz verkündete.

Eine Stunk-Lesung mit oft zeitlosen Texten aus 1391 Sitzungen „ohne störendes Gequatsche von den Nachbartischen und ohne übermäßigen Alkoholkonsum“. Das Publikum im zweimal ausverkauften Ostermann-Saal des Sartory jedenfalls war trotz aller Konzentration euphorisch, und das direkt vom Start weg, dem traditionellen Intro „1980-f“ der Band After the Fire, diesmal gespielt von allen Teilnehmenden auf Cazoos. Die Texte wurden, teilweise unterstützt durch szenische Beschreibungen oder Regie-Anweisungen, in wechselnden Formationen an Tischen sitzend vorgetragen von Ensemble-Mitgliedern und einigen Gästen, die bekennende Stunk-Fans sind.

Ehemaliger Kölner Wirtschaftsdezernent kann endlich mal alles loswerden

So der frühere SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans, der einst mit Köbes Underground-Sänger Ecki Pieper und anderen in einer WG lebte. Er hatte sichtlich Spaß daran, einen Text aus dem Jahr 2006 vorzutragen, in dem ein frustrierter SPD-Politiker im Wahlkampf Kugelschreiber verteilt und sich ob der Limitiertheit seiner Wähler zu einer Wutrede hinreißen lässt. Walter-Borjans, 2006 zum Kölner Wirtschaftsdezernenten gewählt, konnte mal laut alles loswerden, was er sonst in Zeiten übermäßiger Political Correctness höchstens denken darf. „Wir Politiker sind im gesellschaftlichen Ansehen doch noch unter den Strichern“, liest er vor, „also schon fast da, wo die Lehrer sind.“

Alles zum Thema Mülheimer Brücke

Man habe den Verein „Anonyme Sozialdemokraten“ gegründet, da würde man trotz seines Bekennens zur Partei in den Arm genommen. Nicht der Politiker sei schuld an allem, sondern der Spacko, der ihn gewählt habe. Auf die Langnese-Werbung, die vor seinem Wahllokal hing, seien beim letzten Wahlgang 40 Prozent der Stimmen entfallen. „Das einzige, was die Zonis, die Rechts wählen, vom Nationalsozialismus wissen, ist, dass Bruno Ganz die Autobahnen gebaut hat.“ Und weiter im Text: „Wer war in der Pisa-Studie noch hinter Bangladesh? Ihr!“ Das war durch den Vorleser doppelt lustig, der Saal tobte.

lit.Cologne: Stunksitzung geht auch ohne Alkohol

Auch die anderen Gäste durften glänzen. Allen voran Cordula Stratmann, die sich durch einen großartigen, von Volker Weininger verfassten Text berlinerte, der 2014 den Dauerstau auf der Mülheimer Brücke auf's Korn genommen hatte. Als Brandenburger Truckerin ledert sie ab über Köln und die Verkehrszustände: „Die Familienväter unter den Kollegen fahren lieber nach Afghanistan – das ist sicherer und die sind schneller wieder zu Hause.“ Mariele Millowitsch diskutierte beim Funkenknubbel in breitem Kölsch über den Transjeck mit – der auf einmal heimlich blaue statt rote Uniform trägt. Und später konnte sie als Trude Herr den Männern („Ein Gehirn, zwei Eier“) einen mitgeben: „Luur nit esu, ich bin e Engelche, du Aaschloch!“

Wunderbar auch Wilfried Schmickler, der ein Markenzeichen der frühen Stunksitzungsjahre, die Nonsens-Nummer, wieder belebte. Mit einem 1989 geschriebenen Text von Wolfgang Nitschke, in der ein Sozialpädagoge als Zauberer Alfred Voodoo baden geht, brillierte er und ließ alte Unikum-Erinnerungen hochkommen. Oft sinnfrei, aber einfach sehr, sehr lustig. Der Satz „Ist ja nur ein Häschen“ hat unter alten Stunksitzungshasen bis heute Kultcharakter. Fazit: Tolle Ensemble-Leistung. Stunk geht ohne Kostüm und ohne Alkohol. Und Literatur kann lustig sein. Mehr kann man nicht verlangen.

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