Köln – Zum achten Mal jährt sich am 3. März der Einsturz des Historischen Stadtarchivs in Köln. Die Strafrechtlerin Susanne Walther empfiehlt der Justiz, den Fall anders zu lösen.
Frau Professor Walther, noch bevor der Strafprozess gegen mutmaßlich Verantwortliche für den Archiv-Einsturz überhaupt begonnen hat, steht er schon unter dem Zeitdruck der Verjährung. Ist das eigentlich richtig?
Es liegt in der Natur der Sache. Zwar erfordern derartige Großverfahren – denken Sie etwa auch an die Love-Parade-Katastrophe von Duisburg – die komplexe Erforschung technischer Ursachen und persönlicher Schuld. Verjährungsfristen gewährleisten jedoch grundsätzlich Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber will, salopp gesagt, den Staatsanwaltschaften Beine machen, weil mit größerem zeitlichen Abstand die Beweissicherung immer schwieriger und unzuverlässiger wird, aber auch weil Beschuldigte das Recht auf ein zügiges Verfahren haben.
Ein so komplexes Verfahren kann aber doch gar nicht „zügig“ sein, es sei denn, es würde schlampig geführt.
Genau. Das ist die andere Seite der rechtsstaatlichen Medaille: Für jeden Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung. Vor einer Verurteilung müssen sich Gerichte deshalb ein möglichst umfassendes Bild des Falls machen. Ich sage voraus: Das wird im Fall des Archiv-Einsturzes bis zum Eintreten der Verjährung in etwas mehr als zwei Jahren keinesfalls zu bewältigen sein.
Stellen Sie sich das einmal vor: Im Hauptverfahren kann sich jeder der 100 Beschuldigten bis zu drei Anwälte nehmen. Jeder dieser Anwälte hätte das Recht auf Akteneinsicht, könnte Beweis- oder Befangenheitsanträge stellen. Ein Hauptverfahren anzustrengen, wäre absehbar Irrsinn. Die Justiz wäre gut beraten, den Fall auf andere Weise zu lösen.
Wie denn? Die Verteidiger bräuchten den Prozess ja nur so lange hinauszuzögern, bis die Verjährung eintritt. Und ihre Mandanten könnten anschließend unbehelligt nach Hause gehen.
Ja, es sieht zunächst so aus als könnten die Beschuldigten gar kein Interesse an einem anderen Vorgehen haben. Aber man muss als Jurist über den Strafprozess hinausdenken und im konkreten Fall auch – und vor allem – die zivilrechtliche Seite mit einbeziehen. Es gilt der altrömische Satz: Cui bono? Wem nützt es? Daran wird sich vor allem jeder gute Rechtsanwalt orientieren. Schließlich stehen hier Schadensersatzansprüche von mehr als einer Milliarde Euro im Raum. Selbst umgerechnet auf 100 Beschuldigte ist das eine Summe, die schier unerträglich auf den Beschuldigten lasten muss. Und hier gilt auch eine deutlich längere Verjährungsfrist.
Was folgt nun daraus für den Fall des Archiv-Einsturzes?
Ich kenne die zu erwartenden Sachverständigengutachten nicht, aber ich würde der Staatsanwaltschaft raten, die strafrechtlichen Vorwürfe anklagereif zu machen. Und zwar insbesondere in puncto „Baugefährdung“, die vom Gesetzgeber bei den „gemeingefährlichen Straftaten“ eingeordnet wird. Eine bloß fahrlässige Baugefährdung wäre allerdings bereits zum jetzigen Zeitpunkt verjährt. Als Vorsatz wiederum dürfte nur der „bedingte Vorsatz“ in Betracht kommen. Denn bestimmt hat niemand den Einsturz des Archivs „gewollt“. Bedingten Vorsatz nimmt die höchstrichterliche Rechtsprechung an, wenn ein Beschuldigter bei erkannter Gefahr die Konsequenzen seines Handeln mindestens „billigend in Kauf genommen“ hat.
„Einzige Alternative: Verständigung auf vorläufige Einstellung des Verfahrens“
Die Einsturzstelle am 3. März 2009.
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Das ist im Fall des Stadtarchivs schwerlich vorstellbar und wohl kaum nachzuweisen.
Eben. Aber die Staatsanwaltschaft sollte trotzdem nicht voreilig einknicken. Sie könnte – übereinstimmend mit der überwiegenden Position der Rechtsgelehrten – eine Änderung der Rechtsprechung fordern, indem das Gericht den bedingten Vorsatz der Baugefährdung schon dann annähme, wenn ein Beschuldigter weggeschaut oder erkennbare Risiken verdrängt hat. Und die Staatsanwaltschaft sollte dem Gericht mitteilen, dass sie im Fall einer Verurteilung auch Berufsverbote für die Angeklagten anstrebt. Das wäre nicht nur ein wichtiges Signal für Öffentlichkeit und Geschädigte, sondern würde mit Sicherheit auch Druck erzeugen. Es wäre genau die „Steilvorlage“, die es nach meiner Meinung braucht, um eine außerprozessuale Lösung einzufädeln.
Nämlich welche Lösung?
Liegt die Anklageschrift auf dem Tisch, wird das Gericht überlegen, dass ein Urteil vor Ablauf der Verjährungsfrist – wie erwähnt – nur hinzubekommen wäre, wenn ein solches Mammutverfahren regelrecht durchgepeitscht würde. Dann aber gäbe es mit Sicherheit jede Menge Revisionsgründe. Die aus meiner Sicht für alle Beteiligten einzig praktische wie auch gerechte Alternative: Eine Verständigung mit der Staatsanwaltschaft und den Beschuldigten auf vorläufige Einstellung des Verfahrens. Im Zentrum einer solchen Verständigung müsste zwingend die Auflage stehen, den entstandenen Schaden wiedergutzumachen. Der Charme bestünde für die Geschädigten – namentlich die Stadt Köln – vor allem darin, dass für die Wiedergutmachung eine relativ kurze Frist gesetzt ist, nämlich sechs Monate. Die Stadt bräuchte also nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu prozessieren, um Schadensersatz zu bekommen – wenigstens einen Teil.
Aber warum sollten sich die Beschuldigten auf diesen Deal einlassen?
Ganz einfach: Weil sich im Rahmen einer Wiedergutmachungsauflage ein langwieriges zivilrechtliches Schadensersatz-Verfahren gleich miterledigt hätte und ein Vergleich zusätzlich den Umfang des Schadensersatzes – je nach Leistungsfähigkeit der Beschuldigten – reduzieren würde. Und darüber hinaus sollten weitere kreative Lösungen erwogen werden. Man könnte die Beschuldigten zum Beispiel zu einer gemeinnützigen Stiftung motivieren – als Geste der Wiedergutmachung für etwas, was im eigentlichen Sinn nicht gutzumachen ist: den Tod von zwei Menschen. Das ist der Clou. Im Übrigen, ich als – bislang unbescholtene – Angeklagte würde mich vor einem Urteil in einem derartigen Strafprozess, in dem nach aller Erfahrung allenfalls eine Bewährungsstrafe zu erwarten wäre, weniger fürchten als vor einem jahrelangen Schadensersatzprozess mit etwaiger Millionenzahlung. Das ist, glaube ich, der eigentliche Hammer. Von den Anwaltshonoraren gar nicht zu reden.
Zur Person
Susanne Walther, geb. 1956, hatte an der Universität zu Köln zehn Jahre lang einen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsvergleichung inne. Zuvor war sie Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. In ihrer Forschung befasste sie sich mit „Gesamtpaketen“, mit denen die Wiedergutmachungsinteressen von Geschädigten stärker in Strafverfahren einbezogen werden könnten.
Heute ist Susanne Walther als Rechtsanwältin tätig.