Köln – Sie haben keine Hoffnung mehr. Knapp 20 Stunden, nachdem Ali K. im Rhein bei Köln-Stammheim versunken ist, glaubt seine Familie nicht mehr an ein Wunder. Der 47-Jährige hatte von seiner Wohnung in der Nähe des Flusses beobachtet, wie zwei kleine Mädchen ins Wasser gefallen waren. Nur mit einem Jogginganzug und Turnschuhen bekleidet rannte er ans Wasser und sprang hinein. Eine Sechsjährige konnte er zunächst retten, dann verließ ihn wohl die Kraft im zehn Grad kalten Wasser.
Die Chronologie der Ereignisse:
Es sind dramatische Szenen, die sich am Samstag gegen 14.30 Uhr am Rhein abspielen ? mit schrecklichem Ende für zwei Menschen und ihre Familien. Zwei kleine Mädchen (sechs und zehn Jahre) spielen zu dieser Zeit allein auf einem Spielplatz in der Nähe des Flusses. Weil sich die ältere der beiden Schwestern leicht an der Hand verletzt, laufen beide ans Wasser, um die Wunde zu kühlen.
Am Stammheimer Ufer herrscht reger Betrieb, Spaziergänger, Radfahrer und Jogger sind unterwegs. Zunächst achtet wohl niemand auf die beiden Kinder, die die Böschung zum Ufer hinablaufen. Das Gelände ist an dieser Stelle sehr übersichtlich, vom Fußweg aus kann man mehrere hundert Meter überblicken. Weil der Pegel des Rheins zurzeit mit knapp 2,20 Metern sehr niedrig ist, müssen die Kinder am Ende über große Steine klettern, um das Wasser zu erreichen.
Als sie unten ankommen, nimmt das Unglück seinen Lauf: "Aus noch ungeklärter Ursache sind beide Mädchen in den Rhein gefallen", sagt Volker Ruster von der Feuerwehr Köln. Die ersten Passanten werden auf das Drama aufmerksam und kommen zur Hilfe. Die Zehnjährige wird schnell aus dem Wasser gezogen, doch ihre kleine Schwester treibt immer weiter ab.
Als Ali K. dies von seiner Wohnung aus beobachtet, zögert er nicht und läuft los. "Eine Frau hat ihn sogar noch gewarnt, in den Fluss zu springen", erzählt sein Schwager Cemal Kerikam am Tag danach. Seine Augen sind rotgeweint. Familienangehörige, Freunde und Nachbarn sind am Sonntag nach Stammheim gekommen, um der Familie beizustehen. Die Betroffenheit ist deutlich zu spüren. Eine Handvoll Männer stehen vor dem Haus, alle sprechen leise, ein Nachbar bringt Tee nach draußen.
Die Kölner Feuerwehr hat allen Helfern vom Rheinufer ihren Dank ausgesprochen. Der tragische Fall von Ali K. zeigt jedoch, wie schnell man sich selbst in eine lebensgefährliche Situation bringen kann. "Der finale Schritt, selber ins Wasser zu gehen, sollte sehr gut überlegt sein", sagt Michael Grohe von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Der Rhein sei aufgrund der starken Strömung selbst für geübte Schwimmer ein äußerst gefährliches Gewässer mit zum Teil nicht sichtbaren Gefahren.
Grohe rät darum dazu, zunächst einmal die Feuerwehr zu alarmieren und detaillierte Informationen zu geben. "Dann sollte man versuchen, die Person nicht aus den Augen zu verlieren", so Grohe. Hilfreich sei auch, vom Ufer schwimmbare Gegenstände ins Wasser zu werfen, an denen sich ein Ertrinkender festhalten kann. Wer selber ins Wasser gefallen ist, sollte auf keinen Fall gegen die Strömung anschwimmen und mit leichten Schwimmbewegungen versuchen, das nächstgelegene Ufer zu erreichen. (bls)
Dass Ali K. trotz aller Gefahren in den Strom gesprungen ist, wundert hier niemanden. "Bei Kindern und alten Leuten war er immer sofort zur Stelle, wenn Hilfe nötig war", sagt einer und rührt seinen Tee um. Der Sohn des 47-Jährigen spielt beim TuS Stammheim Fußball, K. war Betreuer des Teams.
Im Wasser gelingt es dem muskulösen Mann noch, die Sechsjährige zu packen und zusammen mit einer weiteren Helferin ans Ufer zu bringen. Doch er selbst schafft es nicht mehr an Land. Die Frau reicht ihm einen Stock, an dem er sich festhalten soll. Sie läuft noch ein Stück neben Ali K. her, doch er treibt immer weiter ab und geht schließlich unter. Die Feuerwehr sucht zwei Stunden mit einem Großaufgebot zu Land, zu Wasser und aus der Luft. Vergeblich.
Am Ufer starten unterdessen die Wiederbelebungsversuche für das kleine Mädchen. Sie war minutenlang unter Wasser. Die Retter können sie noch so weit stabilisieren, dass sie in die Uniklinik gebracht werden kann. Dort stirbt sie jedoch kurze Zeit später.
Die Mutter der Mädchen, die aus dem Kongo stammt, ist zum Zeitpunkt des Unglücks zu Hause, kommt aber kurze Zeit später auch zum Rheinufer und erlebt das Drama hautnah mit. Sie erleidet einen Schock. Sie, ihre zehnjährige Tochter und weitere Helfer müssen von Seelsorgern psychologisch betreut werden. Die Staatsanwaltschaft hat ein Todesermittlungsverfahren eingeleitet, allerdings ohne konkrete Beschuldigte. Dies sei in solchen Fällen Routine, sagte ein Polizeisprecher.
Ali K. hat seit 13 Jahren als Staplerfahrer im Niehler Hafen gearbeitet. Einer seiner Freunde war Yilmaz Acer. Der 46-Jährige hatte im vergangenen Juni einen zehnjährigen Jungen aus dem Rhein bei Niehl gerettet und war dabei ums Leben gekommen. Acer hinterließ zwei Kinder, Ali K. drei - zwei Töchter und einen Sohn. "Wenn wenigstens beide Mädchen überlebt hätten", sagt einer seiner Verwandten und spricht den Satz nicht zu Ende.
Nach muslimischem Glauben müsste der Leichnam so schnell wie möglich beigesetzt werden, im Familiengrab in Istanbul. Doch der Retter von Stammheim wird weiter vermisst. Bis jetzt konnte sich seine Familie nicht von ihm verabschieden.
Sechs Fälle in zwölf Monaten
In Köln gab es in 2013 vier Fälle, bei denen Menschen während der Badesaison im Fluss ums Leben gekommen sind. Mit dem jüngsten Fall wächst die Zahl auf sechs Tote:
Ein 23-jähriger Tourist aus England macht mit einem Freund in Rodenkirchen ein Wettrennen in den Fluss. Der junge Brite ertrank im Rhein. Sein Leichnam wurde trotz Suche erst zwei Tage später von Rettungskräften gefunden.
Ein zwölfjähriger Junge geht in Porz-Zündorf beim Spielen plötzlich unter. Nach zweistündiger Suche finden Rettungskräfte das Kind, doch für den Schüler kommt jede Hilfe zu spät. Er stirbt im Krankenhaus.
Ein 23-jähriger Student, der seit etwa einem Jahr in Köln lebt und nicht gut schwimmen kann, ertrinkt am Rodenkirchener Rheinufer. Die Feuerwehr sucht mit Booten, Tauchern und einem Hubschrauber, findet den Mann jedoch erst nach 90 Minuten. Er stirbt im Krankenhaus.
Der 46-jährige Yilmaz Acer springt in Niehl in den Rhein und rettet einen ertrinkenden Jungen. Noch im Wasser sackt er plötzlich zusammen und kommt ins Krankenhaus, in dem er vier Tage später verstirbt.