Neues Leben für Kölner AnwaltAkkorde auf der Gitarre statt Karriere bei Gericht

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Im Studio: Alex Schneider, Volker Dorsch, Erik Millgramm und Peter Wieschermann

Im Studio: Alex Schneider, Volker Dorsch, Erik Millgramm und Peter Wieschermann

Köln – Der Popsong seines bisherigen Lebens könnte vom vierten Studioalbum der deutschen Band Kraftwerk stammen: „Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn...“

75 000 Kilometer im Jahr beträgt allein seine Wegstrecke zu deutschen Gerichten. „Ich habe gearbeitet wie ein Tier“, sagt Erik Millgramm. Sieben-Tage-Wochen, 16-Stunden-Tage – ganz normal. Sein Körper ist immer unter Strom, der Fuß auf dem Gaspedal, der Kopf im Denk-Modus. „Sich für andere einzusetzen, Rechte durchzusetzen auch gegen Widerstände“, das habe ihm schon immer Spaß gemacht, sagt der 58-Jährige über seine frühere Anwaltstätigkeit.

Tumor presste Luftröhre zusammen

Irgendwann fiel ihm auf, dass er kaum noch Luft bekam. Das war beileibe kein subjektiver Eindruck, das konnte gar nicht anders sein, da ein handballgroßer Tumor seine Luftröhre nahezu komplett zusammenpresste. Mit einer solch üblen Drohgebärde seiner Schilddrüse hat der Erfolgsmensch Millgramm nicht gerechnet. Es trifft ihn wie ein Schlag, als Professor Hans Udo Zieren ihn im St.Agatha-Krankenhaus mit seinem Befund konfrontiert und hinzufügt, er habe bisher „noch keinen erlebt, der damit länger als drei Monate überlebt habe“.

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Millgramm, der seine Anwaltstätigkeit „immer mit Leidenschaft ausgeübt“ hat, muss erkennen, dass ihn sein Beruf krank gemacht hat. Er zieht die Konsequenz und gibt seine Zulassung zurück. Als er drei Wochen später zu Zieren und seinem Team in den OP geschoben wird, fühlt Millgramm sich „wie in Trance“. Er habe mit sich abgeschlossen damals, sagt er heute.

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Im Laufe des Vormittags wird ihm der Hals aufgeschnitten, das Brustbein aufgesägt, die Schilddrüse entnommen, der Tumor entfernt. Kaum dass er zu seiner eigenen Überraschung ins Bewusstsein zurückgekehrt ist, beginnt das zermürbende Warten auf den histologischen Befund. Nach fünf Tagen endlich die Gewissheit: nicht bösartig! Ihm fällt eine mehr als handballgroße Last vom Herzen. Als er die ersten Schritte tun kann, begibt er sich in die Krankenhaus-Kapelle. Da sitzt er an den folgenden Tagen immer öfter, schaut auf die Kirchenfenster oder verfolgt Messen, die ihn, den Protestanten „ganz schön inspirieren“.

Nachdenken über das Leben

Er denkt über sein Leben nach; über das, was er schier nicht überlebt hätte und über das davor, als er noch ein Junge war, der mit fünf Blockflöte spielte, anschließend Klarinette lernte und schließlich mit 13 die erste Gitarre bekam. Er erinnert sich daran, wie er in seiner Heimatstadt Leverkusen als Schüler ein eigenes Musiktheater gründete, wie er Stücke schrieb, textete, komponierte und zugleich erkannte, wie schwer es war, sich in der freien Kunst zu etablieren.

Damals fehlte ihm der Mut, seinem Herzen zu folgen. Also wird er nicht Künstler, sondern Jurist, bleibt durch seine anwaltliche Spezialisierung auf den Medienbereich der Kunstszene jedoch im weitesten Sinne treu. Doch nun sitzt er – gerade noch mal dem Sensenmann aus dem Rucksack geschlüpft – in dieser Krankenhauskapelle und merkt, wie sich in seinem Kopf erste Klangmuster bilden. Die nächsten Wochen verbringt er halb liegend daheim auf dem Sofa. Als er sich „endlich die Nase putzen kann, ohne dass es weh tut“, greift er zu seiner alten E-Gitarre aus den 80er Jahren, die er damals frevelhafterweise weiß lackiert hat.

In mühsamer Kleinarbeit beizt er das Instrument ab, legt das schöne Holz wieder frei und erschafft mit Hilfe eines Gitarrenbauers einen neuen und gleichermaßen vertrauten Klangkörper. Wochenlang experimentiert er herum, aber irgendwann kommt er nicht weiter.

Aufnahmen im Studio

Das ist der Moment, in dem sich sein alter Freund Alex am Telefon meldet und wissen will, was er macht. „Wie, und das machst Du ohne mich?“, fragt der Profimusiker mit gespielter Empörung, als er hört, dass sein Kumpel nicht mehr an Gesetzestexten, sondern an der Gitarre hängt. Danach geht es ganz schnell: Alex Schneider trommelt noch zwei Musikerkollegen zusammen, und schon eine Woche später sitzen die vier in einem Studio in der Lichtstraße: Peter Wieschermann (55), der Filmmusik komponiert und alles spielt, was Saiten hat und Volker Dorsch (46), ein weiteres musikalisches Multitalent.

Gemeinsam schwebt ihnen ein Projekt vor, das sich schwer in Worte kleiden lässt, weil das, was heutzutage als „Relax“- oder „Wellness“-Musik auf den Markt gebracht wird, mit echten Instrumenten meist nichts zu tun hat, weswegen sich der wirkliche Entspannungseffekt trotz Wasserfall- oder Urwald-Geräuschen nicht wirklich einstellt. Sie wollen Musik erschaffen, „die nicht nur berieselt, sondern einen mitnimmt“. Ihre zunächst absichtslose Zusammenarbeit und das, was daraus entsteht, kommt den Vieren so vor, als würden sie damit einen Traum realisieren, von dem sie gar nicht wussten, dass er existierte. „Es war wie ein Virus unter Freunden“, beschreibt es Alex Schneider. „Plötzlich waren wir eine Band, ohne es zu wissen“, sagt Wieschermann rückblickend. Und weil sie möglichst viele Menschen unter diesem Himmel erreichen wollen, nennen sie sich „Under One Sky“.

Album namens Peace of mind

Sie treffen sich regelmäßig, probieren, diskutieren, spielen. Irgendwann ist ihre Komposition fertig: 14 Stücke, die ohne Pause ineinander übergehen. Dass sie innerhalb von relativ kurzer Zeit einen Plattenvertrag erhalten, betrachten sie als Indiz dafür, dass sie mit ihrer Musik den Zeitgeist getroffen haben. Am 25. August dieses Jahres erscheint ihr Album „Peace of mind“.

Wenig später fliegt Millgramm in den Spanien-Urlaub, die neue CD mit im Gepäck. Nach ein paar Tagen hält er die Ungewissheit nicht mehr aus, drückt dem DJ der Strandbar die Scheibe in die Hand und fragt, ob er die mal abspielen wolle. Als die Musik verklungen ist, tritt eine Urlauberin heran und sagt Millgramm, sie könne sich nicht daran erinnern, wann ihr Herz das letzte Mal so berührt worden sei. „Sie sind wirklich Künstler!“ Dies sei endlich mal eine CD, bei der man wirklich relaxen könne, bescheinigt Live-Muic-Hall-Inhaber Micki Pick dem Quartett. „Da ist Magie und Energie drin!“ Sie fluche und brülle nicht mehr am Steuer, gesteht eine Kölnerin, die ohne die CD gar nicht mehr Auto fahren will. Ein Pflegedienst, erzählen die Musiker, habe die CD unter anderem bei einem Patienten eingesetzt, der seit seinem Schlaganfall dem Pflegepersonal gegenüber ziemlich ruppig auftrete. Nun sei der Patient ruhiger, freue sich über die neuen Eindrücke.

„Man kann sich ja nicht vornehmen, etwas Geiles zu machen“, stellt Alex Schneider fest. Umso schöner, wenn genau das passiere. Under one Sky bastelt bereits an einem neuen Album. Ideen hat die Band (Gesamtalter 213 Jahre) noch reichlich. Und Millgramm atmet so frei wie schon lange nicht mehr. Klaus Röder, sein alter Gitarrenlehrer und zwischenzeitlich Bandmitglied bei „Kraftwerk“ dürfte stolz auf den Ex-Anwalt sein.

www.underonesky.de

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