Spurensuche vor der HaustürEdelweißpiratenfestival auf Tour durch die Stadtviertel

Lesezeit 4 Minuten
Stadtspaziergang in der Südstadt: Das Duo Sakkokolonia spielt beim Edelweißpiratenfestival.

Stadtspaziergang in der Südstadt: Das Duo Sakkokolonia spielt beim Edelweißpiratenfestival.

Köln – Man braucht ein bisschen Fantasie, um sich in der fein sanierten Südstadt vorzustellen, wie es hier vor rund 90 Jahren ausgesehen haben könnte. Die Historikerin Sabine Eichler berichtet in der legendären und später von den Bläck Fööss idealisierten Elsaßstraße von Armut und beengten Wohnverhältnissen.

Aus einem Fenster wurden Reibekuchen verkauft – „Die Frittenbude für arme Leute“ – und ein Metzger in der Straße hatte die Erlaubnis, auch Hunde zu schlachten. Im März 1933 marschierten SA-Truppen in die Straße, das kleine Viertel mit organisierten Arbeitern und Kommunisten war den neuen Machthabern ein Dorn im Auge.

Erinnerung an die Geschichte

Es flogen Blumen- und Pisspötte aus dem Fenster auf die Nazis. Der Akt des Widerstands hatte weitreichende Folgen: Die Straße wurde mit Panzerwagen der Polizei abgeriegelt, Wohnungen wurden durchsucht und Anwohner verhaftet. Und wenn man die Gesuchten nicht fand, wurden Familienangehörige verhaftet, berichtet Eichler beim Stadtspaziergang. An einigen Stationen der Tour treffen die über 50 Teilnehmer auf das kölsche Duo Sakkokolonia.

Von Christen und Kommunisten

Am nächsten Sonntag, 19. Juli, spazieren Bettina Lelong und der Krätzjersänger Philip Oebel auf „widerspenstigen Spuren“ durch die Altstadt. Sie berichten unter anderem von der Vielfalt des jugendlichen Widerstands während der NS-Zeit – vom kommunistischen Liedermacher Hein Bitz bis zur katholischen Bürgertochter Marga Broil. Beginn: 16.45 Uhr am Lichhof hinter Maria am Kapitol. Im Anschluss findet am Bürgerhaus Stollwerck ein Freiluftkonzert mit der Gruppe Ballhaus statt.

Am Samstag, 1. August, geht die Spurensuche in Dünnwald weiter. Marc Jan Eumann zeigt bei einem Waldspaziergang historische Orte der Arbeiterbewegung und des jugendlichen Ungehorsams. Bündische Musikanten sorgen für die passende Musik. Beginn: 14 Uhr vor dem Karnevalsmuseum, Dünnwalder Mauspfad 391.

Weitere Stadtspaziergänge mit Musik sind in Nippes, im Friedenspark der Südstadt, in Kalk und Ehrenfeld geplant, bevor die Festival-Tour am Samstag, 15. August, an der Kahnstation im Blücherpark mit einem Konzert zu Ende geht. Der Eintritt ist frei, Spenden zur Bezahlung der Künstler und der Organisation sind willkommen. Zur besseren Organisation in Zeiten der Corona-Schutzverordnungen bitten die Veranstalter, sich per E-Mail anzumelden. Pro Veranstaltung sind bis zu 100 Personen zugelassen. Alle Infos zu den Veranstaltungen findet man im Internet. (fra)

www.edelweisspiratenfestival.de

Theo Krumbach und Bettina Wagner waren mit der 2016 verstorbenen Edelweißpiratin Gertrud „Mucki“ Koch befreundet, die nicht nur als Zeitzeugin vom Leben als Jugendliche in der NS-Diktatur berichten konnte. Sie sang auch leidenschaftlich kölsche Lieder. Sakkokolonia interpretieren im Hinterhof im Gedenken an Mucki Koch, Willi Ostermann und Karl Berbuer, singen die Volkslieder vom „Prinz von Krahnebäume“ oder dem faulen Schutzmann, „dä hät der janze Dach noch nix jedon“.

Stadtgeschichte trifft auf Volksmusik

Stadtgeschichte trifft auf kölsche Volksmusik, das Gedenken an die Gruppen der unangepassten Jugendgruppen in der NS-Zeit auf aktuelle Herausforderungen im Kampf gegen Intoleranz und Rechtspopulismus – das was sonst das alljährliche Edelweißpiratenfestival im Friedenspark prägt, muss in Zeiten von Corona – „in dieser etwas surrealen Zeit“, so Eichler – anders transportiert werden. Festivalmacher Jan Krauthäuser und seine Mitstreiter haben zahlreiche kleinere Veranstaltungen organisiert.

Das Festival geht auf Tour. Statt vieler Konzertbühnen im Park gibt es zahlreiche Angebote zur Spurensuche, die Geschichte vor der Haustür lebendig machen kann. „So bringen wir die Emotionen, die im Festival stecken, unter die Leute“, so Krauthäuser. „Die Tour bietet reichlich Gelegenheit, sich im Geiste der Edelweißpiraten für eine weltoffene, solidarische Heimatkultur zu engagieren.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Musik, die für Edelweißpiraten sowie unangepasste Gruppen der bündischen oder katholischen Jugend so wichtig war, spielt auch bei den zahlreichen Aktionen in der Stadt eine zentrale Rolle. Zahlreiche Musiker präsentieren kölsches wie bündisches Liedgut zum Veedels- oder Waldspaziergang. Hinzu kommt das Repertoire von Kölner Weltmusikanten. So spielte Margaux und die Banditen um die gebürtige Polin Margaux Kier, als es um die Erinnerung an Zwangsarbeiter in Köln ging. Der türkeistämmige Musiker Ögünc Kardelen (Kent Coda) begleitete den Empfang bei der Oberbürgermeisterin.

Der Syrer Jamal Albashaan, Klaus der Geiger, Markus Reinhardt und Rolly Brings waren dabei, als es um die Erinnerung an Exponenten der Edelweißpiraten wie Jean „Schang“ Jülich ging. Im Siebengebirge, „dem Lieblingszufluchtsrevier“ der Kölner Edelweißpiraten, wurde auf den Spuren der widerspenstigen und widerständigen Jugendlichen gewandert. Auch der Stadtspaziergang mit Sabine Eichler und Sakkokolonia endet im Grünen: Der Volksgarten war der Lieblingspark von Mucki Koch. Die verborgenen Winkel der Kölner Parkanlagen boten Jugendlichen Rückzugsmöglichkeiten, um sich unentdeckt von Polizei oder Nazi-Spitzeln treffen zu können.

KStA abonnieren