Ob sich Wolfgang Schäuble heute noch daran erinnert, dass er am 27. November 1972 (12 Uhr) eine junge Reporterin namens Lotti Legrand von der „Kehler Zeitung“ zum Interview in der baden-württembergischen Landesvertretung in Bonn empfing? Kaum, denn dieses Interview hat nicht stattgefunden, genauer: es findet lediglich in „Rheinblick“ statt, dem neuen Roman der Kölner Autorin Brigitte Glaser, der just in jenen Tagen – in der Zeit zwischen dem 18. November und dem 4. Dezember 1972 – und just an jenem Ort – in der ehemaligen Bundeshauptstadt – spielt.
Aber es hätte stattfinden können, denn Glaser interpoliert ihre erfundene Handlung in einen weithin zuverlässig recherchierten zeit- und lokalgeschichtlichen Rahmen: Kurz zuvor, am 19. November 1972, war Schäuble erstmals für den Wahlkreis Offenburg, den er bis heute vertritt, in den Bundestag geschickt worden. Glaser schlägt hier amüsant eine Brücke zwischen Einst und Jetzt – eine Kontinuität, die freilich zugleich das Gegenteil deutlich macht, nämlich den riesigen Abstand, der die damalige deutsche Lebenswelt, Land und Leute, Politik und Gesellschaft, von der heutigen trennt.
Der 19. November 1972 hatte es mit Schäubles Partei, der CDU/CSU, nicht gut gemeint: Bundeskanzler Willy Brandt, der politische Gegner, fuhr damals einen überwältigenden Wahlsieg ein – die SPD stellte erstmals seit 1949 die stärkste Fraktion im Bundestag. Der Roman setzt einen Tag früher ein, was darauf verweist, dass das Wahldatum eine wichtige Rolle spielt. Oder besser: weniger der Wahltermin als seine Folgen mit dem Chaos der Regierungsneubildung von SPD und FDP, der dadurch erschwert wurde, dass ausgerechnet der Wahlsieger wochenlang nicht an Deck war: Brandt – das kann man in Peter Merseburgers Biografie nachlesen – fiel wegen einer in den Venusberg-Kliniken vorgenommenen Stimmbandoperation und der anschließenden, von einer schweren Depression begleiteten Rekonvaleszenz über Wochen hinweg aus – mit der Folge, dass sich zwischen den parteiinternen Feinden Horst Ehmke und Helmut Schmidt ein kaum mehr moderierter Machtkampf um Posten und Positionen entwickelte.
Hier setzt Glaser an: Mit der Logopädin Sonja Engel schickt sie eine fiktive, aber „mögliche“ Kraft in Brandts Krankenzimmer, die ihn bei der Wiedergewinnung seiner Stimme unterstützen soll. Willy Brandt als Romanfigur? Das wäre nicht ganz, aber fast eine Premiere, die Glaser damit hinlegte. Indes bleibt der notgedrungen stumme Kanzler ein blasser Schemen – ähnlich wie Adenauer es in Glasers (von der Kritik zu Recht hochgelobtem) Vorgängerroman „Bühlerhöhe“ tut. Das ist nicht zu kritisieren, denn es geht ihr erkennbar nicht um ein literarisches Brandt-Porträt.
Worum aber dann? Die Antwort muss mehrschichtig ausfallen. Das Rückgrat des Romanplots ist eine Krimihandlung: Ein junges Mädchen in einer Heilsarmeeuniform ist ermordet am Schumann-Grab auf dem alten Bonner Friedhof aufgefunden worden. Nicht nur die Polizei, sondern auch Lotti und andere bemühen sich um eine Aufklärung, und eine Zeit lang – das ist der Link zum politischen Bonn – gerät auch ein SPD-Abgeordneter in Verdacht.
Am Schluss implodiert dieser dramatische Komplex indes mehr oder weniger, und auch eine andere zunächst verheißungsvolle Spur verläuft im Sand: War der (fiktive) SPD-Abgeordnete Tibulski etwa daran beteiligt, mit Hilfe aus der DDR das legendäre Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen Brandt vom April 1972 abzuwenden – durch Bestechung der (real existierenden) Unionsabgeordneten Julius Steiner und Leo Wagner? Dieser Vorgang hätte mit der Romanhandlung direkt zusammengehangen: Eine zentrale Figur aus deren (jetzt wieder: fiktivem) Personal – Hilde Kessel, die Wirtin des von Politikern frequentierten Restaurants „Rheinblick“ – hatte Tibulski in einer finanziellen Notlage gegen Bares die Namen von „ansprechbaren“ CDU/CSU-MdBs genannt.
Aber wie gesagt: Dieser Handlungsfaden verläuft sich, und weil auch die Mordgeschichte letztlich zu dünn oder zu schmal ist, um einen Roman von über 400 Seiten Länge zu tragen, ergibt sich – anders als in „Bühlerhöhe“, wo es immerhin um einen Mordanschlag auf den ersten Bundeskanzler geht – für „Rheinblick“ ein kompositorisch-strukturelles Manko. Es wirkt sich dahingehend aus, dass das Buch über viele Seiten hinweg thematisch ein wenig zerfahren dahinplätschert.
Indes kam es Glaser offensichtlich nicht nur auf Plot und Spannung an, sondern auch darauf, insgesamt ein anschauliches Bild der alten Bonner Republik in einer ihrer ferngerückten, wenn auch zeithistorisch noch in der Rückschau bedeutsamen Umbruchphasen zu liefern. Bereits die Anlage zielt in die Breite des Zeitromans, auf den „Roman des Nebeneinander“, wie man ihn weiland genannt hätte.
Das Buch ist multiperspektivisch angelegt: Im kurzatmigen, teils mit Cliffhangern ausgestatteten Wechseln wird von Tageszeit zu Tageszeit und von Tag zu Tag aus der Sicht der verschiedenen Beteiligten erzählt, die jeweils ganz unterschiedliche Sozialsphären repräsentieren. Von der Journalistin Lotti, von der Wirtin Hilde und von der Logopädin Sonja war bereits die Rede, hinzu kommt der ewig klamme Student und Frauenaufreißer Max, der als Taxifahrer weit herumkommt (die einzelnen personellen Linien überkreuzen dann einander, verflechten sich, so dass die handelnden Figuren auch in der Perspektive des jeweils Anderen auftauchen). In Brandts Krankenzimmer rückt das Politmilieu nahe – genauso wie im „Rheinblick“ die bundespolitische Intrigen- und Verratsszene. Hinzu kommen das Journalistenmilieu, die damalige Uniwelt und die WG-Kultur der Nach-68er-Zeit mit ihren spezifischen Konflikten – samt der Musik, die „man“ damals hörte, den Zeitungen, die „man“ las.
Hier gelingen Glaser die stärksten Strecken – wer die Zeit erlebt hat, sieht sich wuchtig in sie zurückkatapultiert. Freilich: Wenn die Autorin am Ende einer Kollegin dafür dankt, den Sprech ihrer Politiker realistisch gemacht zu haben, so ist das nur teilweise gelungen. Was die Abgeordneten da im „Rheinblick“ so loslassen, wirkt oft genug treuherzig, naiv, unbedarft – woran nicht nur der bonnübliche Bierkonsum schuld ist. Hier wurde, man merkt es, aus zweiter Hand zusammengestrickt. Das gilt auch für die WG-Atmosphäre, etwa für den klischeebelasteten, fast karikaturhaften Sermon des MSB-Spartakus-Studenten Kurt. Und ein Detail stimmt nicht: Auch damals gab es im November keine Schlosskonzerte in Brühl. Zu kalt!
Aufs Ganze gesehen erfüllt „Rheinblick“ also nicht ganz die Erwartungen, die man nach „Bühlerhöhe“ hegen durfte – wobei die Autorin freilich selbst die Latte mit dem Vorgänger sehr hoch gelegt hat. Deutlich wird aber allemal: Die von Glaser bearbeitete Zeit ist literaturwürdig geworden. Ein großer Brandt-Roman zum Beispiel liegt in der Luft – wer wird ihn schreiben?
AUTORIN, BUCH, LESUNG
Brigitte Glaser, geboren 1955 in Offenburg, lebt seit über 30 Jahren in Köln. Als Autorin wurde die studierte Sozialpädagogin mit Krimis um die Köchin Katharina Schweitzer bekannt. Mit dem Adenauer-Roman „Bühlerhöhe“ gelang ihr 2016 der Durchbruch.
Der Roman „Rheinblick“ ist im List-Verlag erschienen, umfasst 429 Seiten und kostet 20 Euro.
Die Kölner Buchpremiere mit der Autorin findet an diesem Donnerstag, 19.30 Uhr, im Buchladen Neusser Straße (Nr. 197 & 195) statt. (MaS)